Gehetzt - Thriller
Gail sah zu, wie Diane sich durch die Fachtexte kämpfte und versuchte, das Juristenchinesisch zu verstehen. Vielleicht hätte sie ihr geholfen, wenn Diane sie gebeten hätte. Gail war sich nicht sicher.
Was war es, das sie fühlte? Meistens fühlte sie nichts. Es war ihr einfach scheißegal. Alles und jeder. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Vorbereitungen.
Die Tage kamen und gingen. Die Nächte kamen und gingen. Die Gleichförmigkeit war erniedrigend. Gail riss die Zeit ab. Montags bis freitags ließ sie Diane allein in der Zelle hocken und ging mit dem Landschaftsgärtnertrupp durchs hintere Tor nach draußen. Bald würde auch Diane in den Gefängnisalltag integriert und ihr eine Arbeit zugeteilt werden. Das Personal achtete grundsätzlich nicht darauf, dass irgendetwas
besonders schnell oder effizient zuging. Gefangene wie Aufseher hatten alle Zeit der Welt. Je mehr Zeit man totschlug, desto besser. Es war eine Art perverse Theorie der Umkehrung der Relativität. Einigen, vor allem den Aufsehern, war das Zeittotschlagen offenbar in die Wie ge gelegt. Für andere war es eine erlernte Fähigkeit. Manche der Häftlinge hatten es zu einer wahren Kunst erhoben.
Die meiste Zeit im Knast hatte Gail versucht, so zu tun, als ob sie in Freiheit leben würde. Deshalb war ihr die Zuweisung zum Landschaftsgärtnertrupp wie ein wahrer Glücksgriff erschienen. Sie gärtnerte, was sie genauso gut in ihrer Freizeit hätte tun können, wenn sie eine Bürgerin in Freiheit gewesen wäre.
Heute grub sie im Dreck, stöberte Nacktschnecken auf und zerdrückte sie zwischen Steinen. Diese Aufgabe hatte ihr noch nie Spaß gemacht, aber es musste getan werden, um die Pflanzen zu schützen. Jetzt zermalmte sie die kleinen glitschigen Dinger zwischen den Steinen und stellte sich vor, sie wären die Finger an den Händen eines gewissen ehrwürdigen Alvin Langherd, eines ganz speziellen Staatsanwalts. Die Finger, die das Diktafon gehalten hatten, in das er den Brief diktiert hatte, den seine Sekretärin in irgendeinen beschissenen Regierungscomputer eingetippt hatte, bevor sie auf »Ausdrucken« geklickt hatte, woraufhin der beschissene Regierungsdrucker im Büro von Alvin Langherds Sekretärin Tinte auf die Seiten des Briefes gespuckt hatte, der jene Worte enthielt, die die geschätzten Mitglieder des Bewährungsausschusses so erschreckt hatten, dass sie Gails Antrag abgewiesen hatten.
Ihre Freiheit.
Gail ließ bei ihrer Arbeit nicht nach. Sie zerquetschte die Nacktschnecken und zog an gesichts der kranken Ironie eine Grimasse. Jetzt war nicht die Zeit, Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken, indem sie sich anders verhielt als sonst. Mach einfach weiter wie bisher, niedergeschlagen, aber nicht verzweifelt. Verzweiflung würde die Aufseher nur veranlassen, sie aufmerksamer zu beobachten. Sie musste ihnen zeigen, dass sie geläutert war, dass sie das System und dessen Launen voll und ganz akzeptiert hatte.
Gail genoss die Vorzüge des Landschaftsgärtnerns. Die Landschaftsgärtnertruppe hatte eine hübsche Masche am Laufen. Alle paar Wochen fuhr eine der Gefangenen, eine Marihuanadealerin namens Hillary, den Traktor heraus und mähte bis an die Umgrenzung des rund fünf zig Hektar großen Gefängnisgeländes das Gras, bis sie zu einem riesigen Ahornbaum kam, der wahrscheinlich schon seit mehr als zweihundert Jahren dort stand. Neben dem Stamm des Baumes lag ein Müllsack, den sich Hil lary schnappte und neben sich auf dem Traktorsitz verstaute. Sie reichte den Sack an Lisa weiter, die für die Pfle ge der Anlage zuständig war, in der der Gefängnisdirektor wohnte, in einem alten Steinhaus mit mehreren Nebengebäuden und vielen, vielen Rosensträuchern. Die Rosen hatten Namen wie Penelope, Cornelia und Felicia. Gails Lieb lingsrose war die Ballerina, die mit ihren weiten, flachen, nur am äußeren Rand rosa ge färbten Blüten gar nicht aussah wie eine Rose. Wann immer Lisa Schmuggelware hatte, schaute Gail an ihrer Arbeitsstätte vorbei, bewunderte die Rosen und folgte ihr in den Gartenschuppen, um ihren Anteil entgegenzunehmen. Im Laufe der Woche schmuggelten die Frauen des Landschaftsgärtnertrupps die Beute nach und nach am Ende des Arbeitstages durch das hintere Tor nach drinnen. Die Aufseher am Tor tasteten die zurückkehrenden Frauen normalerweise nur oberflächlich ab, aber es bestand immer das Risiko, herausgewinkt zu werden und sich ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen zu müssen.
Sie schafften es, Papiergeld
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