Gehetzt - Thriller
möglich, um Druck auf den Berufungsausschuss in Atlanta auszuüben.
Warum machte sie sich etwas vor? Sie hatte bereits ihr ganzes Pulver bei der Anhörung verschossen. Es gab keine weiteren Fürsprecher mehr, die sich für sie einsetzen konnten. Sie war am Arsch. Gail stieß die Bohnermaschine wütend vorwärts, lenkte sie ruckhaft von einer Seite des Flurs zur anderen, ließ sie gegen die Wände schlagen und die Maschine von selbst zwischen den Wänden hin- und her rumpeln, und dann
gab es plötzlich einen dumpfen Rums, als der Apparat gegen die Tür des Archivraums krachte.
Und die Tür aufsprang. Nur einen Spaltbreit. Sie wurde nicht etwa aufgeschwungen, damit Gail eintrat. Es war eine Nachlässigkeit. Jemand hatte die Tür nicht richtig zugezogen. War das denn möglich? Einfach so? Diesen Leuten war einfach alles scheißegal, jedenfalls den meisten von ihnen. Die Frauen, die im Archiv arbeiteten, hockten lieber zu Hause, lackierten sich ihre Fingernägel und glotzten irgendwelche Soapoperas, anstatt Papierkram in einen Aktenschrank der Regierung einzusortieren. Sie waren nie um eine Ausrede für eine verlängerte Mittagspause verlegen und kehrten halb betrunken zur Arbeit zurück. Angeblich hatte immer irgendjemand Geburtstag. Gail sah nach links. Dann nach rechts. Niemand zu sehen. Keine Menschenseele.
Sie ließ den Knopf an der Bohnermaschine los, und die kam ruckelnd zum Stehen. Dann prüfte Gail noch einmal den Flur.
Sie stieß die Tür auf, huschte hinein und ließ sie gerade so weit auf, dass vom Flur etwas Licht in den Raum fiel. Sie ging direkt zu dem Register mit dem Buchstaben R und fand sofort ihre Akte. Achtzehn Jahre hinter Gittern, und sie hatten alles über sie in weniger als fünf Zentimetern Papier zusammengefasst. Oder vielleicht misteten sie die Akten auch von Zeit zu Zeit aus. Ihre Hände zitterten, als sie die Papiere durchblätterte. Gail war sicher, dass ihr Herzschlag den halben Flur hinunter zu hören war. Der vor dem Prozess über sie angefertigte Bericht: Er empfahl für ein Verbrechen, das normalerweise mit sechzig Monaten Gefängnis geahndet wurde, eine Ge fäng nisstra fe von zwei hundert fünf zig Mo naten. Die gesammelten BP-9-Formulare, die sie im Laufe der Jahre eingereicht hatte und in de nen sie der Strafvollzugsbehörde mangelnde medizinische Versorgung der Häftlinge vorgeworfen hatte, mangelnde Versorgung in pun cto Zahnpflege,
das Fehlen angemessener Bildungseinrichtungen, mangelhaftes Essen und so weiter. Sie hatte zahlreiche Beschwerden eingereicht, die allesamt in knappem Bürokratengewäsch beantwortet worden waren. Und geändert hatte sich nichts. Ansonsten enthielt ihre Akte nicht viel. Berichte ihres Fallmanagers, die al lesamt ihr Ver halten lobten, ihre Be reitschaft, anderen zu helfen, und ihre ernsthaften Bemühungen hinsichtlich ih rer eigenen Rehabilitation. Scheiße. Sie schob die Akte zurück in die Registratur und wandte sich um, um den Raum schleunigst zu verlassen. In diesem Moment hörte sie in einer Ecke des Raums ein Geräusch. Sie erstarrte, vor Schreck wurde ihr beinahe schlecht. Aber wie und warum sollte sich jemand dort in der Dunkelheit verstecken? Sie stand reglos da, wagte nicht einmal mehr zu atmen. Und dann sah sie, was es war.
Eine Maus.
Sie trippelte vorwitzig über den Boden, erblickte Gail und huschte schnell davon. Die Maus hielt sich nah bei den Schränken, als sie die offene Tür ansteuerte. Gail dachte, sie würde von dem Adrenalincocktail ohnmächtig werden, den ihr Körper ihr soeben serviert hatte. Sie lehnte sich gegen einen Schrank, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergewonnen hatte. Dann schob sie sich schnell an den Schränken entlang Richtung Tür.
Auf dem Weg dorthin erweckte eine Aktenschublade ihre Aufmerksamkeit: W.
Sie fand die Akte ziemlich schnell. Wellman, Diane, geb. 23.5.77, weiblich, weiß, ja, ja, ja, los, weiter. Kokainbesitz. Also hatte sie richtiggelegen, die Kleine saß wegen Dope. Ach, du heilige Scheiße! Gail blinzelte und sah noch einmal hin. Zur Zeit der Straftat war die Angeklagte als Streifenpolizistin bei der städtischen Polizei, Bolton, Texas, beschäftigt. Sie wurde von ihren Kollegen sehr geschätzt, von denen sich
die meisten sehr erstaunt zeigten, dass sie wegen Drogenbesitzes inhaftiert wurde …
Scheiße. Ein Cop. Nicht einfach nur ein Cop. Ein schmutziger Cop. Sie hatten einen Cop auf sie angesetzt! Gail stieß die Akte zurück in die Registratur, schlüpfte nach draußen ins helle
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