Gehetzt - Thriller
Gail drückte Zahnpasta auf ihre Zahnbürste.
»Ich habe heute mit meinem Anwalt gesprochen«, sagte Diane mit vom Weinen verstopfter Nase. »Heute Abend.«
Gail putzte sich weiter die Zähne.
»Sie haben meinen 37er Antrag abgelehnt.«
»Nie gehört.«
»Antrag auf Haftreduzierung.«
»Fünfunddreißig. Es ist der 35er Antrag.«
»Von mir aus auch der. Sie haben ihn abgelehnt. Ich muss die ganzen verdammten zwanzig Jahre absitzen.« Ihr Seufzer klang, als wäre er Sisyphus entfahren.
Und sie würde sie absitzen müssen, das wusste Gail. Die Bundesfuzzis hatten die Strafaussetzung zur Bewährung 1987 abgeschafft. Wenn man nach 1987 verurteilt wurde, gab es keinen Bewährungsausschuss mehr, an den man sich wenden konnte. Bewährung schied von vorneherein aus. Nur weil Gail vor der Verabschiedung des Gesetzes verurteilt worden
war, hatte sie überhaupt die Chance gehabt, einen Bewährungsantrag zu stellen. Die meisten Aufseher und Richter hassten das neue Gesetz. Es bescherte ihnen Häftlinge, die nichts mehr zu verlieren hatten.
Gail spülte ihre Zahnbürste aus und stellte sie zurück in die Dose. Dann drehte sie sich um und starrte, gegen das Becken gelehnt, zu Diane hoch. Ihr Gesicht war vom Weinen aufgedunsen. Sie sah wirk lich bejammernswert aus. Na und, was ging sie das an?
Gail dachte an die Bullen, die sie und Tom hochgenommen hatten. FBI. Sie hatten die Haustür mit einem Rammbock zersplittert, dann waren haufenweise Bundespolizisten in die Wohnung eingefallen, hatten sie und Tom auf den Boden geworfen und sie sechs Stunden dort liegen lassen, während sie die ganze Bude auf den Kopf gestellt hatten. Systematisch. Sie hatten selbst dann noch weitergesucht, als sie das Versteck im Keller gefunden hatten. AR-15-Selbstladegewehre, Schrotflinten. Und den Sprengstoff. Außerdem hatten sie sie wegen der halben Unze Pot, in Toms Nachttisch, wegen Besitzes verbotener Substanzen angeklagt. Gail erinnerte sich, wie sie in jener Nacht auf dem Boden gelegen hatte. An den Menschen, der sie gewesen war. Diese idealistische, fanatische junge Frau, darauf versessen, die Welt zu verändern. Mein Gott. Was hatte sie getan? Was hatte sie gedacht? Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie in der Nacht auf ihrer unbarmherzigen Pritsche gelegen und gedacht, dass sie die härteste, überhaupt nur denkbare Strafe erwischt hatte. Dann hatte es Zeiten gegeben, in denen sie geglaubt hatte, sich niemals verzeihen zu können, was sie getan hatte oder im Begriff gewesen war zu tun. Wie auch immer. Manchmal war sie regelrecht froh gewesen, dass sie sie erwischt hatten. Dass ihre Gruppe es nicht geschafft hatte, die Bombe in der Telefongesellschaft zu platzieren. Das war der Plan gewesen.
Die Kommunikation in Washington D.C. lahmzulegen und das ausbrechende Chaos zu beobachten. Der Plan hatte vorgesehen, dass niemand verletzt werden sollte. Ein reines Eigentumsdelikt, aber eins das sagte: Du kannst mich mal, Uncle Sam. Andere Male hatte Gail gedacht, dass sie von allein zur Vernunft gekommen wäre und selbst die Notbremse gezogen hätte, wenn es so weit gewesen wäre, tatsächlich einen Einbruch zu begehen. Sie hatte sich gerne eingebildet, dass ihr rechtzeitig bewusst geworden wäre, dass sie nicht wirklich daran geglaubt hatte, was sie da getan hatte. Dass sie fähig gewesen wäre, einen Rückzieher zu machen und klar zu trennen, was sie für Tom empfunden und was die Organisation ihr bedeutet hatte. Vielleicht. Das Wort steckte voller Versprechen. Vielleicht hätte sie das Ganze nicht zu Ende geführt. Vielleicht hätte sie ihre Eltern nicht so verletzt. Vielleicht hätte sie jemanden kennengelernt, der mit ein bisschen weniger fanatischem Idealismus gesegnet gewesen wäre und ein wenig Stabilität und Zärtlichkeit in ihr Leben gebracht hätte.
»Was starrst du denn so an?« Dia nes Stimme brachte sie in die Zelle zurück.
»Dich.« Gail beug te sich zu Diane vor. »Sag mir eins: Warum bist du hier?«
Diane wischte sich ihr Gesicht mit der Decke trocken und sah Gail an.
»Hab’ ich dir doch schon gesagt. Ich wurde gelinkt. Jemand hat mir eine Mordsmenge Koks untergejubelt.«
»Wer?«
»Die Leute von der Drogenfahndung haben den Stoff gefunden. Vielleicht haben die Beamten das Zeug selber deponiert, vielleicht war es auch jemand anders. Wahrscheinlich Letzteres. Die Typen von der Drogenfahndung schienen in Ordnung.«
»Soll ich dir einen Rat geben?« Gail beobachtete Diane aufmerksam. »Vertrau nie einem Bullen.«
»Hm.«
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