Gehetzt - Thriller
reinzusteigern, und beherzige meinen Rat. Sorg für eine Alltagsroutine. Das ist wichtig. Nur so kannst du einen klaren Kopf bewahren.«
»Hältst du dich für meine Mutter, oder was?«
»Ich bin niemandes Mutter«, stellte Gail wütend klar und hasste den hohlen Klang ihrer Worte. »Aber ich sitze seit achtzehn Jahren in diesem Knast, und du gerade mal seit … wie lange bist du hier? Sind es schon drei Monate? Hast du schon neunzig Tage abgesessen? Du tätest gut daran, auf meinen Rat zu hören.«
Diane stand auf, schnappte sich das Kissen von ih rer Pritsche, legte sich zurück auf Gails Bett und verbarg ihr Gesicht unter dem Kissen. Dann nahm sie es weg, lag einfach so da
und starrte die Unterseite des Bettes über sich an. Jemand hatte in das Metallgestell geritzt: Soyez tranquille.
»Ist das von dir?«
Gail warf einen Blick auf die Kritzelei. »Nein.«
»Weißt du, was es heißt?«
»Ist Französisch. Heißt soviel wie: Ruhe bewahren. Immer cool bleiben.«
»Ist doch von dir, stimmt’s?«
»Ich hab’ doch gerade gesagt, dass es nicht von mir ist. Hältst du mich für eine Lügnerin?«
Diane musterte erneut den Spruch. »Du kannst mir einen großen Gefallen tun«, meinte sie dann. »Kennst du die Szene in diesem Film, in dem Jack Nicholsen in die Klapsmühle kommt und schließlich von diesem Indianer erstickt wird, nachdem die Seelenklempner ihm das halbe Gehirn rausgeschnippelt haben? Nimm einfach dieses Kissen hier und erstick mich. Jetzt sofort. Ich verspreche dir, dich nicht anzuzeigen.«
Gail lehnte sich wieder gegen die Wand. Sie hörte die ersten Sägegeräusche der Schnarcherin, die in ihrer Zelle weiter unten im Trakt loszuratzen begann. Es klang wie eine Kettensäge, eine sehr große Kettensäge. Tief. Unglaublich. Es versprach eine weitere, erbärmliche, trostlose Nacht an diesem erbärmlichen, trostlosen Ort.
»Was hast du angestellt?«
»Wer? Ich?« Gail lachte in sich hinein, über sich selbst.
»Na los. Ich habe auch vor dir die Hose runtergelassen. Pack schon aus. Du hast eine Mörderstrafe aufgebrummt gekriegt. Also muss es etwas ziemlich Ernstes gewesen sein.«
»War es auch.«
Achtzehn Jahre. Die Erkenntnis, die irgendwo in ihrem Hinterkopf gelauert und sich angefühlt hatte wie der Beginn einer gewaltigen Kopfschmerzattacke, brach sich plötzlich
Bahn. Noch einmal zwölf Jahre. Sechs weniger, als sie schon abgesessen hatte. Die schlichte Tatsache war, dass sie es nicht konnte. Sie war dazu nicht in der Lage. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr, wenn sie weitere zwölf Jahre an diesem Ort verbringen musste. Den einzigen Sinn, den ihr Leben überhaupt noch hatte, war die Hoffnung, dass sie rauskommen und die Freiheit wiederfinden würde. Und Gail wusste, auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, dass ihre Berufung zurückgewiesen werden würde. Also hatte sie schon an das andere gedacht. Abzuhauen. Zu verschwinden. Auszubrechen. Wenn sie zwei Spalten gegenüberstellte, eine unter der Überschrift »Absitzen der Strafe« und die andere unter der Überschrift »Flucht«, blieb die erste bis auf den Punkt »sicherer Tod« leer. So war es. Wenn sie hierblieb, würde sie sterben. Entweder durch ihre eigene Hand oder durch die unermessliche Verzweiflung, die sie bald verzehren würde. Wenn sie floh, ging sie große Risiken ein, keine Frage. Das Risiko, getötet zu werden. Das Risiko, geschnappt zu werden. Aber es bestand auch die Chance, dass sie davonkam. Sie war kräftig, brachte es inzwischen auf siebenundvierzig Liegestützen in der Minute. Sie konnte schnell rennen und lange rennen. Und wenn sie erst einmal untergetaucht war, würden sie sie nie finden. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater war tot. Sie hatte keine Geschwister und weder Ehemann noch Kinder. Ihr engster Freund war Mel, ihr Anwalt. Und er würde ihr helfen, das wusste sie. Letzten Endes hatte sie nichts zu verlieren als ihr elendes Dasein. Und die Draufgängerin, die mit ihr die Zelle teilte, schien zu allem bereit. Sie erinnerte Gail an sich selbst, wie sie vor gut zwanzig Jahren gewesen war. Naiv. Idealistisch. Leidenschaftlich überzeugt, dass das Gute in der Welt sich durchsetzen sollte. Und war es nicht abgedreht, dass genau im richtigen Moment ausgerechnet ein Excop in ihr Leben platzte, um ihr zu helfen, diesem gottverdammten Knast zu entkommen? In solchen
Dingen vertraute Gail ihren Instinkten. Und falls es eine abgekartete Sache war, Scheiß drauf.
Gail ertappte sich bei dem Wunsch, die Anhörung wäre anders
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