Gehetzt - Thriller
Dämmerung rumpelte.
»Na endlich.« Gail ging hinüber zu Diane und zog die Jalousie wieder hoch. Sie fuhren tatsächlich. Sie setzte sich wieder, hielt Diane die Hand zum High-Five hin, und Diane klatschte ab und lachte laut auf.
»Bleibt also nur noch die Frage, wer das untere Bett kriegt«, meinte Diane und musterte die Schlafgelegenheiten.
Gail zog die Tür zum Speisewagen auf und warf einen prüfen den Blick in das Abteil. Ein Gast. Ein Anzugträger, der das Wall Street Journal las und an einem Kaffee nippte. Gut.
Diane schien genau zu wissen, wo sie sitzen wollte, also folgte Gail ihr zum letzten Tisch auf der rechten Seite, der direkt neben der Tür auf der anderen Seite des Speisewagens in die Ecke gestellt war. Diane nahm den Stuhl mit dem Rücken zur Wand, Gail setzte sich ihr gegenüber neben das Panoramafenster, das etwa bis zur Hälfte des Tischs reichte.
»Willst du nicht so sitzen, dass du aus dem Fenster sehen kannst?« Gail sah Diane fragend an.
»Nein«, erwiderte diese leise. »Ich sitze lieber so, dass ich den Wagen im Blick habe und schnell rauskomme, falls irgendetwas passiert. Aber guck du ruhig raus und genieß die Landschaft. Ich behalte das Abteil im Auge.«
»Guck nicht zu intensiv, sonst fällst du noch auf. Hier sind wir sicher. Entspann dich.«
Diane lehnte sich zurück und nahm sich eine Speisekarte. Gail musterte sie. »Bist du …?«
Diane legte die Hände auf den Tisch und beugte sich zu Gail vor. »Bewaffnet? Eine von uns muss es schließlich sein.«
»Nein. Keine von uns muss es sein. Es ist sicherer, wenn du es nicht bist.«
»Falsch.«
»Darüber müssen wir reden.«
»Nicht hier.«
Gail überlegte, ob sie aufstehen und zurück in ihr Schlafwagenabteil gehen sollte, beschloss aber zu bleiben. Besser keine Zwietracht säen. Sie und Diane brauchten einander, zumindest vorerst. Das Wichtigste war, dass Diane genau wusste, wie die Bullen tickten, wie sie vorgehen würden und wo Fallen lauern konnten. Und so sehr es Gail auch missfiel, dass Diane eine Waffe bei sich trug, war ein Teil von ihr doch irgendwie erleichtert, als ob Diane ihre Beschützerin wäre. Sie kam sich beinahe zurechtgewiesen vor, sah aber trotzdem aus dem Fenster. Der Zug rollte jetzt Richtung Norden den Hudson entlang. Guck aus dem Fenster. Genau das würde ein normaler Reisender auch tun. Sie war total überwältigt von der Schönheit des breiten Flusses und der saftigen Wiesen, die sanft zu den Ufern hinabfielen. Bevor sie eingesperrt worden war, hatte sie all das für selbstverständlich gehalten. Jetzt rührte es sie beinahe zu Tränen.
Diane studierte die Speisekarte, gleichermaßen beeindruckt von den Rühreiern mit frischem Spargel und geräuchertem Lachs im Blätterteigmantel wie von dem hausgemachten Cornedbeef-Haschee mit zwei von beiden Seiten gebratenen Spiegeleiern und warmem Toast. Als Gail einen Blick auf die Speisekarte warf, war sie von der Auswahl
überwältigt. Sie bezweifelte, dass sie fähig sein würde, sich zu entscheiden.
»Weißt du, was ein Blätterteigmantel ist?« Diane linste über ihre Speisekarte.
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein«, stellte Diane klar. »Eine Frage. Ich habe es noch nie gehört.«
»Ein Teig«, erwiderte Gail. »Dünn. Leicht. Knusp rig. Ein bisschen wie der Teig eines Baklavas.«
»Und was ist das, bitte schön?«
»Ach, jetzt sehe ich, was du im Auge hast. Nimm es. Es wird dir schmecken.«
»Aber wie ist der Teig denn nun?«
»Ich kann dir sagen, wie er nicht ist. Er ist nicht wie Tortillateig.« Gail versuchte, sich versöhnlich zu geben.
»Ha, ha. Ist er so ähnlich wie die Kruste eines Pies?«
»Ja, genau. Die zarteste Pie-Kruste, die du dir vorstellen kannst. Zergeht auf der Zunge. Ist wirklich köstlich.«
»Gab’s das in der Knastkantine auch?«
»Sehr witzig. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit daran.«
Diane beobachtete, wie Gail die weiße Serviette von dem weißen Teller nahm, der auf der weißen Tischdecke stand. Ihre Hände zitterten leicht. Das silberne Besteck glänzte im Schein der Morgensonne, die durch das breite Panoramafenster neben dem Tisch fiel. Der Zug raste jetzt mit voller Geschwindigkeit über die Schienen, hin und wieder schaukelte er. Diane sah erneut Gail an, die auf den vor ihr stehenden Teller starrte und die Serviette umklammerte.
»Gail.« Sie flüsterte beinahe. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Gail legte die Serviette langsam auf ihren Schoß und sah Diane an. »Ja. Alles klar. Mir
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