Gehetzt - Thriller
zumindest in Kevins Erinnerung, Jahre später -, dass sie allmorgendlich nach dem Aufstehen ihr Kissen ausschütteln und ihr Bettzeug hatten zurechtziehen müssen. Danach war es ihrer Mutter wieder egal gewesen.
Diane schüttelte die Erinnerungen ab; sie hasste unerfreuliche Belästigungen aus ihrer Vergangenheit. Gail sah aus dem Fenster.
»Na dann, nach der langen Zeit«, begann Diane, und Gail zuckte zusammen, was wiederum Diane erschreckte, woraufhin sie beide anfingen zu lachen. »Tut mir leid«, sagte Diane.
Gail schüttelte den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass es nichts machte. »Woran hast du gerade gedacht? Jedenfalls bestimmt nicht ans Frühstück.«
»Liest du jetzt auch noch meine Gedanken?«
»Einen Moment lang sahst du aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Ich habe daran gedacht, dass meine Mutter eine verdammte Säuferin war.«
»Ziemlich harte Worte.«
»Mag sein. Trotzdem wahre Worte.«
»Im Knast haben sie so was ›Alkoholabhängige‹ genannt. Ich meine die Betreuer.«
Diane bedachte sie mit einem Blick, der sagte: Da wäre ich ja nie drauf gekommen.
»Ich habe manchmal ein bisschen geholfen. Bei ihren Versammlungen.«
»Wie waren sie denn so?«
»Nette Menschen«, erwiderte Gail, »die mit ei ner ziemlich schweren Last fertig zu werden versuchten.«
»Verurteilte Straftäter. Rauschgiftkonsumenten. Säufer. Klingt nach einem spaßigen Häufchen.«
»Meine Freundin und ich, in der Highschool … also, es gab eine Zeit, da hättest du gedacht, dass wir alle als Junkies enden würden. Aber soweit ich weiß, hat keine von uns wirklich so geendet.«
Diane schüttelte immer noch langsam den Kopf - sie verstand es einfach nicht -, als der Kell ner an ihren Tisch kam, seinen Block zückte und Gail vor weiteren Diskussionen bewahrte. Es hatte genug Missstimmung gegeben. Vielleicht waren es nur die Nerven, dachte Gail. Vielleicht würde alles einfacher werden. Aber vielleicht sollte sie auch Mels Rat folgen und die Kleine loswerden.
»Du kannst dich wirklich noch an den Geschmack von Blätterteig erinnern?« Vor dem Kellner spielte Diane ganz die höfliche gute Freundin. Gail nickte.
»Dann nehme ich den Lachs im Blätterteigmantel.«
»Ich auch«, schloss Gail sich an. Na bitte. War doch gar nicht so schwer.
Nach dem Brunch gingen sie zurück in ihr Schlafwagenabteil.
Gail fühlte sich dort sicher, wahrscheinlich, weil der Zug in Bewegung war. Es hatte irgendwie etwas Beruhigendes, in Bewegung zu sein, vom Rest der Welt isoliert - diesmal aufgrund ihrer eigenen Wahl - und zu reisen. Es war nicht, wie in einem angeblich sicheren Haus zu sitzen, in dem jede Minute die Polizei durch die Tür gestürmt kommen konnte. Natürlich hatte sie Angst, aber im Moment konnte sie diese Angst zum größten Teil ihrer Paranoia zuschreiben. Andererseits war die Bedrohung noch genauso real wie diese junge Verrückte, die da neben ihr in dem Schlafwagenabteil saß. Die Cops konnten sehr wohl jeden Moment durch die Tür stürmen … vorausgesetzt, sie waren ebenfalls in New York in den Zug eingestiegen. Aber wenn das der Fall gewesen wäre, hätten sie sie längst verhaftet. Also musste sie sich keine Sorgen machen, bis sie den nächsten Bahnhof erreichten, und Cleveland war noch Stunden entfernt. Solange konnte sie tun, was sie wollte, ein bisschen durch den Zug spazieren oder in den Speisewagen gehen und etwas essen. Es hatte beinahe etwas Beängstigendes; ihr wurde bewusst, dass es auch Vorteile hatte, eingesperrt zu sein. Keine Wahl zu haben und tun zu müssen, was einem gesagt wurde. Unter diesem Blickwinkel hatte der Mangel an Eigenverantwortung durchaus etwas Entlastendes.
Aber auch etwas Erstickendes, und nicht nur das. Es war so ein merkwürdiger Freiraum. In all diesen Jahren hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als frei zu sein, und jetzt, da sie frei war, schien die Freiheit - mit all der mit ihr ein hergehenden Verantwortung - selbst einengend zu sein. Gail musste wählen. Sie musste sich entscheiden. Und aus ihrer jeweiligen Wahl und ihren Entscheidungen ergaben sich Konsequenzen. Hinter Gittern hatte sie nichts zu verlieren gehabt. Hier draußen konnte sie ihre Freiheit verlieren.
Diane zog den Revolver unter ihrem T-Shirt hervor und legte ihn neben dem Kissen aufs Sofa, sodass er immer noch von ihrer Bluse bedeckt war.
»Trägst du deshalb gerne weite Kleidung?«
Diane sah sie scharf an. »Ist nicht nötig, dass ich jemanden
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