Gehetzt
Sergeant hob die Maschinenpistole, preßte sie gegen die gesunde Schulter, legte den Lauf auf die Mauer, zielte sorgfältig etwa einen halben Meter über die Scheinwerfer und gab einen langen Feuerstoß ab. Er hörte das Splittern von Glas. Der Wagen geriet außer Kontrolle und rollte im Zickzack zurück.
Barnes feuerte nochmals, beschrieb mit dem Lauf einen leichten Bogen. Der Wagen schoß wild zur Seite, krachte mit dem Heck gegen die Mauer am Straßenrand und blieb stehen.
Die Scheinwerfer beleuchteten die gegenüberliegende Mauer.
Der Motor erstarb.
Der Fahrer hing halb über dem Lenkrad, Kopf und Schulter waren blutüberströmt. Die Beifahrertür war offen, der Offizier lag mit ausgebreiteten Armen rücklings auf der Straße und starrte in den Himmel. Die rechte Hand schien er nach einer aufgesprungenen Dokumentenmappe auszustrecken, die er im Augenblick der Gefahr fest an sich gepreßt hatte.
Barnes untersuchte den Offizier, dessen Brust von den Kugel regelrecht durchsiebt worden war. Er hatte den Rang eines Majors, war aber jetzt nur noch ein toter Major. Barnes hob die Aktenmappe auf und entnahm ihr ein Papier. Colburn untersuchte mittlerweile sorgfältig das Wageninnere.
Barnes studierte das Papier im Licht der Scheinwerfer und brummte unwillig: »Das ist Ihre Brieftaube, Colburn. Sie sagten doch, Sie sprechen Deutsch. Können Sie es auch lesen? Das hier könnte ganz interessant sein.«
»Lassen Sie mal sehen.«
Der Kanadier studierte den Text und blickte dann den Sergeant an. Seine Miene war sehr ernst.
»Sogar sehr interessant – ein Kampfbefehl. Diese Kopie ist für den Gefechtsstab hier irgendwo bestimmt. Ich seh’ aber lieber noch mal nach.«
»Schon dieser Stabswagen hier«, sagte Barnes nachdenklich,
»ist für uns sehr aufschlußreich. Wahrscheinlich rechnen sie aus dieser Richtung nicht mit Feindberührung, sonst hätten sie den Stabswagen nicht ohne Eskorte losgeschickt. Vielleicht können wir die Hunde überraschen.«
»Dieses Dokument * hier dürfte Sie überraschen, Barnes. Die 14. deutsche Panzerdivision wird im Morgengrauen Dünkirchen angreifen. Sie wird auf einer kaum bekannten, überfluteten Nebenstraße gegen die Hafenstadt vorrücken.
Wahrscheinlich steht die ganze Region entlang der Front unter Wasser. Doch das kann ich nur vermuten. Offensichtlich liegt die Straße etwas höher als das umliegende Land und steht deshalb nur ein paar Zentimeter unter Wasser.«
* Nicht nur Sergeanten hatten Glück mit solchen Dokumenten. Vierundzwanzig Stunden zuvor war Lieutenant-General Sir Alan Brooke, Kommandeur des 11. Korps der britischen Expeditionsarmee, ein Kampfbefehl aus einem deutschen Stabswagen in die Hände gefallen, der die unmittelbar bevorstehende Offensive von General von Bocks Heeresgruppe B ankündigte. So war der britische Kommandeur gerade noch in der Lage, weitere Truppen zur Verstärkung in das bedrohte Gebiet zu verlegen.
»Ist auch der Ausgangspunkt genannt?«
»Ja, es ist Jacques’ Heimatort. Der Angriff startet um vier Uhr morgens von Lemont aus.«
So fand Barnes in letzter Minute endlich sein geeignetes Angriffsobjekt, um den Deutschen eine Schlappe beizubringen.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war 0.25 Uhr.
»Wir vergessen Calais«, sagte er. »Jacques wird uns den Weg in seinen Heimatort zeigen.«
»Hier steht auch der Name des Generals, der den Angriff leitet.«
»Tatsächlich?«
Barnes zeigte nur wenig Interesse für diese Information, während sie zum Panzer zurückliefen.
»Ja, es ist ein gewisser General Heinrich Storch.«
12
Sonntag, 26. Mai
Storch sprang aus dem Stabswagen, schaute auf die Uhr, nickte dem salutierenden Offizier kurz zu und ging die heckengesäumte Straße in einem Viertel von Lemont entlang.
0.45 Uhr.
Keine vier Stunden mehr bis zum Morgengrauen.
Die Scheinwerfer eines Panzerwagens am Ende der Straße wiesen ihm den Weg. Links von ihm hinter der Hecke spiegelte sich der Mond auf der Oberfläche des überfluteten Gebietes, eines ausgedehnten Sees, der sich durch nichts vom Meer unterschied. Als der General beim Wagen ankam, drehte er sich zu dem Offizier um, der ihm gefolgt war.
»Hier ist es, Keller – der Ausgangspunkt der letzten Offensive. Sieht nicht sehr beeindruckend aus, stimmts?«
Die Scheinwerfer des Panzerwagens wiesen nach Norden über das geflutete Feld unterhalb der Straße. So weit das Auge reichte, dehnte sich die Wasserfläche – bis nach Dünkirchen.
Doch über die Fläche zog sich eine
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