Gehirnfluesterer
oder weniger unzugänglich sind und dass andere einfach mit dem Strom schwimmen.
Teilweise könnte das durchaus angeboren sein. Schauen Sie sich in einem beliebigen Klassenzimmer oder auf einem Spielplatz
um, und Sie werden beide Seiten der Medaille entdecken: Kinder, die sich schon von der kleinsten Kritik oder Herausforderung
getroffen fühlen, und andere, die sich nicht aus ihrer Bahn werfen lassen. (Wenn Sie wissen wollen, wie leicht Sie zu beeinflussen
sind, dann machen Sie doch den Test ab Seite 316. Ist nur ein Angebot.) Andererseits haben wir natürlich alle unsere schwachen Momente, kleine Inseln der Verbohrtheit, auf
denen uns nur Gleichgesinnte willkommen sind. Das deutet darauf hin, dass Beeinflussbarkeit auch durch unsere Umwelt bestimmt
wird. Sie prägt im Lauf der Zeit nicht nur unsere Haltungen generell, sondern auch die Werte, die uns in bestimmten Situationen
am wichtigsten sind. So haben Verwandte von Soldaten, die im Irak getötet wurden, wahrscheinlich entschiedenere Ansichten
zur englischen oder amerikanischen Außenpolitik als die Zeitgenossen, die persönlich weniger betroffen sind.
Darin steckt aber auch ein Hinweis auf tiefer liegende Ursachen. Es könnte ein allgemeines und grundlegendes Prinzip geben,das den Weg bestimmt, auf dem das Gehirn zu Entscheidungen gelangt. Wenn persönliche Einstellung und Gefühl so eng miteinander
verbunden sind, dann ist unser Gehirn möglicherweise nicht so scharfsichtig, wie wir meinen. Könnte es sein, dass es loslegt,
bevor es genau hinsieht? Dass es erst mal glaubt und dann erst nachdenkt? Dass wir zu den Ansichten, die wir verfechten, gar
nicht gekommen sind, indem wir alle Argumente bedacht haben, sondern dass es Ansichten sind, die wir gar nicht wegargumentieren
können? Das mag beunruhigend und sogar verrückt klingen, aber es spricht einiges dafür. 1 Tatsächlich erliegen wir einer Illusion, wenn wir meinen, dass wir jede neue Information Brocken für Brocken durchkauen, bevor wir uns entschließen, das Neue auch aufzunehmen und zu akzeptieren.
Der Psychologe Dan Gilbert aus Harvard und seine Kollegen führten eine dazu passende Studie durch. Ihre Versuchspersonen bekamen
einen Bericht über einen Raubüberfall auf einen Laden zu lesen, dies allerdings in zwei Versionen. Die erste Gruppe las, dass
der Räuber besonders gefühllos handelte. (»Er drohte der Angestellten damit, sie zu vergewaltigen.«) Die zweite Gruppe erfuhr,
der Räuber sei ausgesprochen rücksichtsvoll vorgegangen. (»Er entschuldigte sich bei der Angestellten dafür, dass er den Laden
ausräumen müsse.«)
Ungewöhnlich an dieser Versuchsanordnung war, dass die Forscher beiden Gruppen gleich zu Beginn reinen Wein darüber einschenkten,
dass die Charakterschilderungen des Täters getürkt waren. Während die Versuchspersonen die Berichte über den Fall lasen, wurden
einige von ihnen bei der Lektüre unterbrochen. Sie sollten zwischendurch eine Rechenaufgabe lösen. Es ging um die Phase zwischen
»Glauben« und »Nicht-Glauben«. In den paar Millisekunden, in denen das Gehirn sich nach Aufnahme der Information entscheidet,
ob es etwas »glauben« soll oder nicht, wird es durch eine völlig andere Aufgabe abgelenkt, so wie bei der Szene im Hotel in
Kapitel 3, als plötzlichLeute zum Abtransport der Hochzeitsgeschenke auftauchten und die Aufmerksamkeit der Empfangsdame abgelenkt war. Eine solche
Ablenkung müsste dazu führen, so vermutete Gilbert, dass die Versuchsteilnehmer, obwohl sie genau wussten, dass die Charakterschilderungen
falsch waren, dazu gebracht wurden, sie trotzdem zu glauben.
Und genau so kam es auch. Als sich im letzten Versuchsabschnitt das Labor in einen fiktiven Gerichtssaal verwandelte und die
Teilnehmer aufgefordert wurden, ein Urteil über den Räuber zu fällen, ergab sich folgendes interessante Bild: Mr Nett erhielt
(im Durchschnitt) zwei Jahre, Mr Unnett fünf Jahre Gefängnis. 2 Und das, obwohl, wie gesagt, alle Versuchspersonen wussten, dass die Charakterbeschreibungen des Täters
falsch
waren.
Offenbar gibt es Situationen, in denen man zwangsläufig alles glaubt, was man liest.
Die Immuninsuffizienz des Glaubens
Die Folgerungen aus Gilberts Studie sind nicht leicht zu verdauen. Aber sie rücken auch einiges zurecht. Plötzlich verstehen
wir, warum zum Beispiel Empathie und gefühltes Eigeninteresse bei den Prozessen sozialer Beeinflussung eine so große Rolle
spielen. Man muss nur die
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