Gehorche mir!
müssen.
Und doch war sie heutzutage auf dem Weg zur Arbeit deutlich besser gelaunt als an jedem beliebigen Tag während ihrer Zeit als Mrs. Morgan.
Vor sechs Jahren hatte George sich von ihr getrennt und sich zu seiner Geliebten bekannt, einer jungen Erbin, die zu seinen Stammgästen zählte. Tess war in ein tiefes emotionales Loch gefallen. Mit einem Schlag hatte sie ihren Mann verloren, ihre Wohnung und ihren Job. George wollte sie zwar weiterhin beschäftigen, aber sie hatte von sich aus gekündigt, denn sie konnte die mal neugierigen, mal mitleidigen Blicke und das Getuschel der Kollegen nicht ertragen.
Ihre beste Freundin Susan hatte ihr damals angeboten, vorübergehend bei ihr zu wohnen. Es war eine chaotische Zeit gewesen, denn Susan hatte vier Kinder, einen Hund und einen Mann, dessen Hobbys sehr viel Platz einnahmen. Die Unordnung, die lebhafte Fröhlichkeit der Kinder und das lange Ausschlafen jeden Morgen hatten Tess schnell aus der Krise geholfen.
Susans Kusine arbeitete in der Modebranche und kannte jemanden, der ein Dessous- und Fetischmodengeschäft in einem riesigen Hotelkomplex namens Glowcastle hatte. Das, so Susan, dürfe sie Tess nur vertraulich und unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten. Jedenfalls hätte Glowcastle neulich einige Außenanlagen angebaut und die Anzahl der Gästesuiten erweitert und benötigte jetzt mehr Personal. Die Jobvoraussetzungen seien: Toleranz, Flexibilität, eine ungezwungene Einstellung zu Sexualität, völlige Immunität gegen Stress und absolute Diskretion.
Tess hielt Glowcastle aufgrund der Stellenbeschreibung für einen Edelpuff oder Schlimmeres und hatte die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch – das nicht in dem abseits gelegenen Glowcastle, sondern in einem feudalen Restaurant in Glasgow stattfand – nur deswegen angenommen, weil sie Susan nicht enttäuschen wollte. Doch dann lernte sie Alan Parr kennen, den Personalchef und stellvertretenden Geschäftsführer von Glowcastle, und wusste sofort, dass sie ihren Traumjob gefunden hatte, oder zumindest ihren Traumarbeitgeber. Alan wirkte so seriös und vertrauenerweckend, dass sie für ihn sogar gearbeitet hätte, wenn sie dafür etwas Illegales hätte tun müssen. Was zum Glück nicht der Fall war.
Ein klein wenig bedauerte sie, dass Alan sechzehn Jahre jünger war als sie. Er war auf so entspannte Art gut aussehend, dass man einfach nicht genug von ihm bekam. Auch heute schwärmte Tess immer noch ein wenig für ihn, obwohl sie längst wieder in festen Händen und rundum glücklich war.
Als sie in Glowcastle an der Rezeption angefangen hatte, war das für sie in jeder Hinsicht ein Neubeginn gewesen. Sie hatte alle alten Zöpfe abgeschnitten – auch ihre langen Haare, die sie ihrem Ex-Mann zuliebe zehn Jahre lang schwarz gefärbt hatte. Sie hatte erwartet, dass sie hellblond nachwachsen würden, aber sie waren stattdessen weiß geworden. Das war ein kleiner Schock gewesen. Sie hatte ihren schönen blonden Haaren nachgetrauert und George verflucht, der ihr viele „blonde Jahre“ geraubt hatte, aber mittlerweile war sie damit ausgesöhnt. Die weiße Pracht reichte ihr bis zu den Hüften und verlieh ihr die Aura der Sängerin einer Symphonic-Metal-Band. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch ihre Berufskleidung: Mittelalterlich anmutende Gewänder mit Trompetenärmeln. Dank der entspannenden Massagen und straffenden sportlichen Aktivitäten, die in Glowcastle angeboten wurden und die sie eifrig nutzte, war sie inzwischen so geschmeidig, dass kein Mensch sie auf 48 geschätzt hätte. Sie betrachtete es als Kompliment, als ihr Ex bei einem zufälligen Wiedersehen ausrief: „Du hast dir ja Botox spritzen lassen!“
Das war etwas, das sie mit Sicherheit niemals tun würde, weil sie fand, dass eine lebendige Mimik auch mit Falten immer noch jugendlicher wirkte als eine starre, glatte Maske. Auf Fotos mochten geliftete Frauen gut aussehen, aber in natura fehlte ihnen die Ausstrahlung. Solche Frauen hatte Tess in dem Nobel-Hotel ihres Mannes oft genug zu sehen bekommen.
Glowcastle zog ein ganz anderes Publikum an. Der Modegeschmack der Gäste umspannte die gesamte Bandbreite von elegant bis schrill, von Kaschmir bis Lackleder. Am Anfang hatte Tess oft das Gefühl gehabt, die Gäste verkleideten sich, um vor dem Alltag zu fliehen, doch sie ahnte inzwischen, dass viele dieser Verkleidungen im Grunde das wahre Selbst ihrer Träger viel besser zur Geltung brachten als deren Alltagsuniformen.
Es war
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