Geisterblumen
Ohren.
Keine Anzeichen für einen
Einbruch. Niemanden gefilmt.
»Liza«, flüsterte ich.
Nun muss ich ihr glauben. Mir bleibt keine Wahl.
Ich merkte erst, dass ich laut gesprochen hatte, als N. Martinez sagte: »Ich glaube nach wie vor an eine rationale Erklärung. Ich bin mir nur nicht sicher, ob mein Verstand sie finden kann.« Er schüttelte den Kopf. »Nichts ergibt mehr irgendeinen Sinn.«
Wir erreichten einen großen Platz aus rötlichem Betonpflaster, in dem in Schlangenlinien Bänke aufgestellt waren. Wir setzten uns. Gegenüber saßen zwei Frauen in Kostümen und stocherten mit Plastikgabeln in ihrem Salat. Eine Studentin joggte vorbei.
Ich fragte mich, wie viele von denen wohl zugeben würden, dass sie an Geister glaubten.
N. Martinez sagte: »Reginas Angreifer hat immer wieder gesagt: ›Lass sie in Ruhe.‹«
»Sie?«
»Colin meint, sie wäre durcheinander gewesen, und der Angreifer habe ›ihn‹ gesagt. Aber Regina ist sich sicher, dass von ›sie‹ die Rede war.«
Ich dachte an mein Handy mit dem leeren Akku. Und wie wütend Liza gestern gewesen war, als ich mit Regina gesprochen hatte. Wie sie gesagt hatte, ich würde nie wieder eine Freundin wie sie haben.
Sie hält ihre Versprechen
, dachte ich und staunte, wie ruhig ich blieb.
Die Stimme von N. Martinez riss mich aus meinen Gedanken. »Colin hat Reggie bewusstlos in ihrer Wohnung auf dem Boden gefunden. Er hat einen Krankenwagen gerufen, und sie hat ihm unterwegs erzählt, was passiert ist. Dann hat er auf der Wache ausgesagt. Ich habe seine Aussage aufgenommen. Er hatte eine Menge interessanter Dinge zu erzählen. Vor allem über dich.«
Das war es also. Ich hatte es geahnt und war nun, da es geschehen würde, fast erleichtert. Um ihm zuvorzukommen, sagte ich: »Er hat Ihnen gesagt, dass ich eine Hochstaplerin bin.«
N. Martinez nickte. »Ja, also habe ich deine Fingerabdrücke im System überprüft. Anhand des Namens und dann noch im Abgleich mit allen registrierten Fingerabdrücken.«
Er hatte die einzige Schwachstelle in Bridgettes Plan gefunden. Jetzt wusste er Bescheid. Er kannte die Wahrheit. Ich atmete tief aus und begriff, dass ich mich die ganze Zeit darauf vorbereitet und sogar darauf gehofft hatte.
Doch ich war nicht auf das gefasst, was danach kam.
»Ich habe deine Abdrücke auch landesweit überprüft.«
Ich konnte kaum atmen.
»Es gab nur einen Treffer. Eine Person namens Eve Brightman, deren Fingerabdrücke mit
deinen übereinstimmen und die in Oregon wegen Ladendiebstahls verhaftet wurde. Es ging um eine Eistorte. Und sie wurde auch nur gefasst, weil sie lange genug im Laden blieb, um den Namen
Nina
darauf zu schreiben.«
Ich wartete, dass er weitersprach. War gespannt, was jetzt kommen würde.
»Wer ist Nina?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Oh, doch. In welcher Beziehung standest du zu ihr?«
»Sie war meine Pflegeschwester. Sie war acht Jahre alt.« Er wartete auf mehr, und ich wünschte, ich könnte ihm eine so interessante Lebensgeschichte erzählen, wie ich sie selbst gerne gehabt hätte.
»Was ist passiert?«
Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht darüber reden. Ich schloss die Augen, und da war sie.
Erzähl mir eine Geschichte
, hörte ich Ninas Stimmchen in meinem Kopf sagen. Ich erinnerte mich, dass ich mich zu ihr hatte beugen müssen, weil ihre Stimme nur ein schwaches Flüstern war, das beinahe im Verkehrslärm untergegangen war. Ihre Stimme schwand dahin, aber ihre Haut war immer noch so weich wie ein Pfirsich.
Ich war erschöpft, ausgebrannt. Sie lag im Sterben. Es gab nichts, das ich für sie tun konnte; man konnte nichts mehr für sie tun, das hatten mir die Schwestern in der Ambulanz gesagt. Sie hatten es mir nachdrücklich versichert. Als würde mir das helfen.
Doch das tat es nicht. Ich durfte nicht aufgeben.
Unsere Tage in der Ecke des verlassenen Lagerhauses, in dem wir lebten, vergingen wie in einem seltsamen Nebel. Die Verkehrsgeräusche und die Vögel, die in den Dachbalken nisteten, und die Stimmen der Hausbesetzer am anderen Ende drangen wie ein weißes Rauschen an mein Ohr. Früher war an diesem Ort Obst gelagert worden, und in der Luft hing noch immer ein schwacher Hauch von überreifen Melonen.
Nina lag hinter dem Vorhang aus rosafarbenem und goldenem Stoff, den ich neben dem Studentenwohnheim im Müll gefunden hatte. Sie schlief zwei Stunden und war zwei Stunden wach, immer im Wechsel. Wenn sie schlief, zog ich los und versuchte, Dinge zu finden, zu stehlen oder zu
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