Geisterflut
anderen war ein junger Mann bei einer Abschlussfeier zu sehen - einer kirchlichen Abschlussfeier: Er trug einen Hut mit blauer Krempe und eine Schärpe. Chess hatte genauso einen Hut auch bei sich zu Haus, er steckte, noch in seiner Originalverpackung aus durchsichtigem Plastik, ganz hinten in ihrem Wandschrank.
Ach du Scheiße. Sie hatte sich geirrt. Wie dumm von ihr. Das beklommene Lächeln auf seinem Gesicht: Wie oft hatte sie dieses Lächeln schon gesehen und sich nichts dabei gedacht? Sich nichts bei dem Mann gedacht, der da lächelte? Er war kein guter Debunker, war ein Langweiler, eine Trantüte ...
Wie es aussah, war Randy Duncan doch erheblich klüger, als sie angenommen hatte.
Randy Duncan, der laut der Geburtsurkunde, die sich in dem Umschlag befand, Mrs. Mortons unehelicher Sohn war. Jetzt, da Chess das Foto ansah, bemerkte sie die Ähnlichkeit.
Randy hatte ihr nicht erzählt, dass er seiner leiblichen Mutter wiederbegegnet war; er hatte ihr überhaupt nie etwas über sein Leben erzählt. Chess wusste, dass er ein Adoptivkind gewesen war, aber all das hier: die Geburtsurkunde, die Rechnung einer Privatdetektei, die erkennen ließ, wie viel Geld die Mortons dafür ausgegeben hatten, ihn zu finden - davon hatte er nie auch nur ein Wort gesagt. Aber Moment ... Natürlich nicht. Nicht, nachdem er auf die Idee gekommen war, dass er die Kirche benutzen konnte, um ihnen ihr Geld zu erstatten und ihnen ganz nebenbei auch ein größeres Haus zu verschaffen.
Die Mortons würden eine Geistererscheinung melden. Randy würde in dem Fall ermitteln und die Erscheinung bestätigen. Die Kirche würde zahlen, und alle wären glücklich und zufrieden.
Doch leider war Chess dazwischengekommen und hatte den Fall übernommen. Jetzt wusste sie immerhin, wer auf der Liste eigentlich als Nächster dran gewesen war.
War das tatsächlich das Einzige, worum es hier ging? Warum zum Teufel hatte er die Lamaru mit ins Spiel gebracht? Was hatte er sich bloß dabei gedacht? War er wirklich eine solche Niete, dass er sich an die wenden musste, um einen Geist herbeizubeschwören, statt das selber zu tun? So was lernten sie doch schon im zweiten Ausbildungsjahr, verdammt noch mal. Sie hätte, wenn es nötig gewesen wäre, jetzt auf der Stelle einen Geist herbeibeschwören können. Es wäre zwar illegal gewesen, aber sie hätte es gekonnt. Wieso also konnte Randy das nicht? Wieso hatte er sich an die Lamaru wenden müssen, und wieso hatten sie statt eines normalen Geistes ein Wesen wie Ereshdiran herbeibeschworen?
Das war ihr unverständlich, das passte nicht zusammen, auch wenn ihre übrigen Fragen damit beantwortet waren. Ihre instinktive Ahnung beim ersten Besuch, dass die Mortons simulierten, war goldrichtig gewesen. Das hatten sie getan - bis dahin. Doch während dieses Besuchs war es ihnen irgendwie gelungen, Ereshdiran dorthin zu schaffen - Ereshdiran, ganz besoffen von Chessʽ Macht - und daraufhin war die Hölle losgebrochen, und Chess immer mitten drin. Und das alles bloß, weil Randy seiner Familie helfen wollte. Der arme, dumme, naive Randy - der sich irgendwie mit den Lamaru eingelassen hatte.
Kein Wunder, dass Mrs. Morton diesen Umschlag nicht vernichtet hatte, dass sie es nicht einmal ertrug, ihn vorübergehend außer Haus zu deponieren. Es musste schrecklich gewesen sein, ein Kind wegzugeben und dann jahrelang danach zu suchen ... Aber eigentlich konnte Chess es sich nicht vorstellen, jedenfalls nicht, dass jemand so viel Geld und Zeit investieren würde, nur um an ihrem Leben teilzuhaben.
Sie räusperte sich. »Also gut. Ich glaube, das ist alles, was wir —«
»Nicht so schnell.«
Ach du Scheiße. Sie wirbelte herum - mit butterweichen Knien - und sah Randy in der Tür stehen, gerade mal einen Meter von ihr entfernt. Er hielt ein schwarzes Jagdmesser in der bleichen Hand. Sein normalerweise wirres Haar klebte ihm in verschwitzten Strähnen an der Stirn; er nagte an seinen trockenen Lippen, die aufgesprungen und gerötet waren.
Wie dumm war sie denn eigentlich? Es war doch klar, dass Randy hier auftauchen würde. Und es war auch klar, dass er ein Messer haben würde. Hatte sie tatsächlich geglaubt, hinter einer verschlossenen Haustür wäre sie vor ihm sicher?
Sie hatte sich für sehr schlau gehalten, als sie Terrible eine Querstraße weiter hatte parken lassen, sodass ihre Anwesenheit in diesem Haus nicht sofort zu erkennen war - und als sie ihn mitgenommen hatte, damit er ihr suchen half und sie schneller
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