Geisterflut
Wieder eine Nacht keinen Schlaf gekriegt. Ihr brannten die Augen. »Hast du denn niemanden, der sich um dich Sorgen macht?«
»Nein, ich hab niemanden.«
»Das klingt aber, als ob du dich da vielleicht irrst.« Nun war er fertig mit den Lines, schob ihr das Tablett hinüber und hielt ihr ein Silberröhrchen hin.
Sie nahm es, beugte sich vor und sog sich eine Line in die Nase. Die gesegnete Betäubung setzte ein, strahlte bis tief in den Rachen aus, begleitet von dem üblichen bitteren Batteriesäure-Aroma. Chess tunkte eine Fingerspitze in das Glas Wasser, das Lex bereitgestellt hatte, und schnupfte ein paar Tropfen hinterher. War es nicht jedes Mal wieder so geil wie beim ersten Mal?
Na ja, fast.
Sie sog noch einmal Luft durch die Nasenhöhlen, um weiteres Pulver in den Rachen und die Lunge zu befördern, dann holte sie sich ihr Telefon. Sie wollte mit keinem reden außer Lex, wollte nirgendwo sein außer hier. Die wohlige Benommenheit setzte ein und würde anhalten, bis sie irgendwann plötzlich den Drang verspürte, woanders zu sein, doch gegenwärtig gab es auf der ganzen Welt keinen Platz, wo sie sich wohler gefühlt hätte als in Lex’ Schlafzimmer, in dessen Bett sie ganz allein und keusch eine schlaflose Nacht verbracht hatte, während er auf die Couch ausgewichen war. Das war eine ziemliche Überraschung gewesen, doch andererseits war sie von den Oozers, die er ihr verabreicht hatte, so benommen gewesen, dass sie wahrscheinlich gar nichts gespürt hätte.
Das Telefon brummte in ihrer Hand. Besser, sie brachte die Sache gleich hinter sich. »Hallo?«
»Chess? Verdammt, Baby, wo steckst du denn? Terrible sucht dich, er stellt die ganze Stadt auf den Kopf, hat erzählt, deine Tür hätte offen gestanden und deine Wohnung wäre verwüstet. Lebst du noch?«
Mist! »Äh ... Ich geh ans Telefon ... Was schließt du daraus?«
Edsel lachte. »Da hast du Recht. Was ist denn mit deiner Wohnung passiert?«
»Bei mir ist eingebrochen worden. Aber mir geht’s gut. Sag Terrible, ich bin okay, und ich ruf ihn in ein paar Minuten an, ja?«
»Mach ich. Apropos: Ich hab jemanden getroffen, der dir eventuell helfen könnte. Weißt du noch, ich hab dir doch von einem Kunden erzählt, Tyson heißt er. Der ist vorhin vorbeigekommen und hat mir eine Wegbeschreibung zu seinem Haus dagelassen. Er sagt, er kann dir wahrscheinlich weiterhelfen, und falls es noch nötig ist, sollst du nachher bei ihm vorbeikommen.«
»Oh, großartig! Danke, Ed, vielen, vielen Dank!« Sie machte zu Lex gewandt eine Schreibgeste, und der starrte sie einen Moment lang verständnislos an, bis er kapierte und ihr einen Stift und ein Blatt Papier gab. Eine Seite war mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt, also nutzte sie die Rückseite.
»Pass auf dich auf, Chess. Dieser Tyson ist okay, so weit ich weiß, aber ich kenne ihn nicht besonders gut. Klar?«
»Klar. Danke noch mal!«
Das war die beste Neuigkeit seit Tagen - trotz Edsels Mahnung. Die Aussicht, jemanden zu treffen, dem er offenkundig misstraute, behagte ihr zwar nicht sonderlich, aber sie brauchte die Information zu dringend, um sich abschrecken zu lassen. Sobald sie dieses verdammte Amulett entziffern konnte, ließ sich auch herausfinden, was der seelengespeiste Zauber tat, und wenn sie das erst einmal wusste, konnte sie sich die beste Methode überlegen, ihn unwirksam zu machen und Slipknots Seele zu befreien. Und ganz nebenbei würde sie damit die Wahrscheinlichkeit sehr verringern, dass noch mehr maskierte Schlägertypen bei ihr einbrachen.
Als Nächstes hörte sie ihre Nachrichten ab. Terrible. Edsel. Doyle, dann zweimal Terrible, dann der Älteste Griffin, der wissen wollte, ob sie im Fall Morton schon vorangekommen sei, dann noch mal Terrible. Sie musste heute irgendwann noch bei der Kirche vorbei und die Fotos von Albert Mortons Büchern abgeben, damit Goody Tremmell sie abheften konnte. Und sie musste die Mortons weiter befragen. Das ließ sich aber eventuell auf später verschieben, falls nach dem Besuch bei Edsels Bekanntem noch Zeit dafür blieb.
Schließlich rief sie Terrible an. »Hey, Chess hier.«
»Chess?« Verblüfftes Schweigen. »Ey, Mann, wo steckst du? Bist du okay? Haben sie dir was getan?«
»Nein, nein, mir geht’s gut. Bei mir ist eingebrochen worden, und da hab ich mich sicherheitshalber -«
»Du hast mich nich angerufen, hast mir nich Bescheid gesagt. Ich war heute Morgen bei dir, und da war Blut auf dem Fußboden, und du warst nich da. Von wem ist
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