Geisterflut
Angriff anzuspannen ... dann schlossen sich ihre Finger um den Stahlkolben.
Der Mann wandte ihr wieder das Gesicht zu, als sie eben die Hand hochriss, doch er kam zu spät. Sie stieß ihm die Kanüle in den Hals und hoffte, wenn sie schon keine Ader traf, dass sie ihn wenigstens vorübergehend außer Gefecht setzte. Ihre Finger zitterten nicht, als sie zudrückte und ihm die volle Ladung verpasste. Gleichzeitig hieb sie ihm den rechten Handballen an die Nase und spürte kaum den Schmerz, den ihr das verursachte. Immerhin wankte der Kerl jetzt.
Dann riss er den Mund auf, doch ehe er einen Ton rausbrachte, fiel er polternd wie ein Sack Kartoffeln auf den Fliesenboden.
Das Gepolter ließ den anderen Mann aufmerken, der immer noch das Wohnzimmer durchwühlte. Er kam angerannt. Chess fuhr herum. Sie war wieder sicher auf den Beinen und sah sich von einem seltsamen Hochgefühl erfasst. Das Messer in ihrer Hand fühlte sich unglaublich gut an. Sie wappnete sich, indem sie ein wenig in die Knie ging und die Klinge vor sich ausgestreckt hielt.
Doch Lex erwischte ihn zuerst.
Wo der auf einmal herkam, wusste sie nicht, doch er bewegte sich, als wüsste er ganz genau, was hier vor sich ging. Er riss einen schlanken Dolch aus der Jacke und packte den Angreifer bei den Haaren.
Der Mann begann sich umzudrehen, hieb mit der Faust hinter sich, hielt aber inne, als die Klinge seine Kehle durchdrang. Er riss den Mund auf, und seine Finger berührten einen Moment lang hektisch seinen Hals, als wollte er sich dort kratzen.
Dann kippte er um. Blut floss aus der Wunde über den Boden, und Lex zog den Dolch heraus.
»Verdammt, Tülpi«, sagte er und wischte die Klinge am Umhang des Toten ab. »Du verstehst es wirklich, mir einen freundlichen Empfang zu bereiten.«
Sie keuchte. »Was machst du hier?«
»Hast du meinen Zettel nicht gekriegt? Ich wollt mal vorbeischaun, um zu sehn, wie’s so läuft. Aber das trifft sich ja prima. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass ich jemanden aus gutem Grund kaltmache.«
»Freut mich sehr, dass ich dir da eine Gelegenheit liefern konnte.« Da lagen zwei Tote auf dem Fußboden. In ihrer Wohnung. Zwei Männer waren bei ihr eingebrochen und hatten versucht, sie zu töten - oder sie zumindest zu berauben und einzuschüchtern.
Zwei nun tote Männer. In ihrer Wohnung. Und einen davon hatte sie getötet. Eigenhändig. Sie bekam weiche Knie.
»Hey, ganz ruhig, ich dachte, du wärst ’ne knallharte Lady. So sahst du jedenfalls aus, als ich hier zur Tür reinkam. Wie jemand, den man lieber nicht wütend machen will.«
Chess hob eine zitternde Hand und strich sich die Haare aus den Augen. »Ja, hast Glück, dass ich so guter Laune bin.«
Er lächelte anerkennend und deutete mit dem Kopf auf die Toten. »Was wollten die denn überhaupt? Nur was klauen? Oder wollten sie dir auch ans Leder?«
»Klauen. Die haben irgendwas gesucht. Haben mich gefragt, wo es ist...«
»Und was? Haben sie’s gefunden?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf, bemühte sich, ihn klar zu kriegen. Der Typ, der das Wohnzimmer durchsucht hatte, schien es doch gefunden zu haben, oder? Sie sah sich darin um. Ihre Holzschatulle lag aufgeklappt da, der Inhalt über den Boden verstreut.
Die Schatulle, in der sie das Amulett verwahrt hatte.
Sie nahm sich ein altes Geschirrtuch, um ihre Hände zu schützen, und kniete sich neben den Leichnam, während Lex die Strumpfmasken der Toten aufschnitt. Sie kamen ihr beide nicht bekannt vor. Schade, aber nicht überraschend. Wieso sollte auch mal was reibungslos gehen?
Der weite Umhang des Toten war mit Blut getränkt, doch das Symbol vorne drauf war deutlich zu erkennen: eine gezackte Linie über einem Haufen traditionell aussehender Runen, die Chess aber nicht erkannte. Es kam ihr vage bekannt vor, aber so erging es ihr schließlich mit den meisten magischen Zeichen.
Nach kurzer Suche fand sie die Taschen des Umhangs. In der tiefsten steckte das Amulett und glänzte wie eh und je.
»Das hier wollten sie«, sagte sie.
Am anderen Ende des Zimmers brummte ihr Mobiltelefon wie eine in ein Glas gesperrte Hornisse. Man hörte es trotz des Pagans-Albums, das im Hintergrund lief. Es hatte seit einer guten Stunde immer mal wieder geklingelt, während sie in Lex’ Wohnung auf dem Sofa saß und nicht die Kraft aufbrachte, sich wieder zu erheben.
»Du solltest mal rangehen«, sagte er, während er gerade auf einem Spiegeltablett ein paar fette Lines startklar machte.
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