Geisterlicht: Roman (German Edition)
ahnte, was zwischen ihr und Aidan gerade geschehen war. Vielleicht würde sie es Dawn aber schon bald erzählen? Schwestern vertrauten einander doch Geheimnisse an, auch wenn Dawn und sie bis jetzt keine Übung darin hatten.
»Fiona!« Für einen Moment schien Dawn hin- und hergerissen zwischen ihrem Besucher, den sie zum Bleiben überreden wollte, und ihrer Schwester, die sie seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, zu sein. Dann verabschiedete sie sich hastig von Aidan, schärfte ihm ein, sehr bald wieder vorbeizukommen, und stürmte durch die offene Gartenpforte auf Fiona zu.
»Ich wusste, dass du schon da bist«, sprudelte sie hervor und fiel ihr um den Hals. »Wie schön! Ich freue mich so!«
Als Fiona den schlanken, biegsamen Körper spürte, der sich an ihren presste, und den zarten Aprikosenduft des schimmernden roten Haars wahrnahm, merkte sie, dass sie etwas wiedererkannte, das sie so viele Jahre vermisst hatte, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.
»Du benutzt immer noch das Shampoo, mit dem Mama uns früher die Haare gewaschen hat.« Fiona musste schlucken, und als Dawn sie losließ und ihr ins Gesicht schaute, wischte sie sich hastig mit dem Handrücken über die Augen.
Im selben Moment fing auch Dawn an zu weinen. Die Tränen strömten in Sturzbächen über ihre Wangen. Gleichzeitig lächelte sie. So war Dawn schon als kleines Mädchen gewesen. Immer in Bewegung, hatten ihre roten Haare wie Flammen um ihren Kopf getanzt, und sie hatte oft gleichzeitig gelacht und geweint.
»Ach, Dawn, ich bin so glücklich, dass wir uns endlich wiederhaben«, schluchzte Fiona. Plötzlich wurde auch sie von ihren Gefühlen überwältigt. So wie vorhin, als sie unversehens in Aidan MacNaughtons Armen gelegen und seinen leidenschaftlichen Kuss erwidert hatte.
Fiona gewann als Erste die Fassung wieder. Sanft strich sie ihrer Schwester über den Kopf und nestelte ein Papiertaschentuch aus der Tasche ihrer Jeans. Damit tupfte sie vorsichtig Dawns Wangen trocken. »Nicht weinen«, flüsterte sie.
»Ich freue mich doch nur.« Dawn nahm Fiona das Taschentuch aus der Hand und schnäuzte sich kräftig. »Aber ich bin auch traurig, weil wir so lange nichts voneinander hatten. Und weil Mim dich nicht mehr gesehen hat, bevor sie gestorben ist. Sie hat oft geweint, denn sie hat dich die ganze Zeit vermisst, weißt du.«
Fiona musste schlucken und spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. »Wir reden später in Ruhe über alles«, sagte sie rasch.
»Ja.« Die roten Haare wippten heftig auf und ab. »Wir haben uns schrecklich viel zu erzählen.« Dawn atmete tief ein. »Wie findest du denn Aidan?«, sprudelte sie dann hervor. »Ist er nicht toll?«
»Wieso?« Fiona spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich, die gleich darauf anfingen, zu glühen. Dawn konnte unmöglich wissen, was zwischen Aidan und ihr passiert war. Oder etwa doch? Instinktiv hob sie die Hand und strich sich mit der Kuppe des Zeigefingers über die Unterlippe.
»Aidan wohnt seit ein paar Monaten hier in der Nähe. Zum ersten Mal kam er hierher, weil er keinen Festnetzanschluss hat und Handys hier in der Gegend nicht funktionieren. In der Zwischenzeit hätte er sich eigentlich längst einen Anschluss legen lassen können. Ich glaube aber, das macht er nicht, damit er einen Grund hat, jederzeit zu mir zu Besuch zu kommen.« Dawns Augen funkelten und strahlten.
»Aha«, machte Fiona und fürchtete sich vor dem, was jetzt kommen würde.
»Ich bin total verliebt in ihn.« Dawn sah in diesem Moment so bezaubernd und glücklich aus, dass Fiona sich schwor, dass ihre Schwester von dem Kuss in der Küche niemals erfahren durfte. »Du musst mir helfen, ihn für mich zu gewinnen. Er ist der Mann meines Lebens!«
»Aber wie soll ich dir denn dabei helfen?«, stieß Fiona kraftlos hervor.
»Du bist doch die älteste Tochter«, stellte Dawn in selbstverständlichem Ton fest und zog Fiona mit sich in die Küche. »Und die Erstgeborenen haben in unserer Familie seit Jahrhunderten die stärksten Kräfte.«
»Was denn für Kräfte?« Verwundert starrte Fiona sie an.
»Weißt du das wirklich nicht? Hast du nie etwas gemerkt?« Dawn lachte nervös auf und erwiderte aus dunkelgrünen Augen Fionas Blick.
»Was meinst du?« Fiona spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.
»Du musst etwas bemerkt haben, Fiona! Dass du dir bestimmte Dinge wünschen kannst, die dann auch geschehen, zum Beispiel. Dass du manches einfach weißt, ohne dass es dir
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