Geisterlicht: Roman (German Edition)
tatsächlich fast keine Angst mehr gehabt.
Nun war das Kissen neben ihr leer, doch angesichts des hellen Tageslichts fiel es Fiona trotz ihres nächtlichen Erlebnisses schwer, sich vor einem Geist zu fürchten. Wahrscheinlich gab es für das alles eine ganz natürliche Erklärung.
Tocktocktock.
Als es plötzlich an ihr Fenster klopfte, fuhr Fiona erschrocken im Bett hoch. Ihr Schlafzimmer lag im ersten Stock, und die Erkenntnis, dass sie tagsüber keine Angst zu haben brauchte, war von einer Sekunde auf die andere vergessen. Geblendet starrte Fiona in das grelle Licht.
Draußen vor dem Fenster saß ein großer schwarzer Vogel und pickte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Tocktocktock.
Na bitte! War das vielleicht ein Spuk gewesen? Von der Bettkante aus sah Fiona interessiert zu, was der Vogel da draußen machte. Er klopfte doch wohl kaum ans Fenster, weil er hereinwollte. Jetzt stieß der Vogel, bei dem es sich offenbar um einen Raben handelte, ein lautes Krächzen aus, flatterte mit den Flügeln und stieß erneut drei Mal mit der Schnabelspitze gegen die Fensterscheibe.
Zögernd stand Fiona auf und durchquerte das Zimmer. Wollte der Rabe tatsächlich, dass sie ihm öffnete? Konnte das nicht gefährlich sein? Bilder aus Horrorfilmen, in denen Vögel über Menschen herfielen, huschten durch ihren Kopf.
Der Rabe dort draußen legte den Kopf schief und sah sie aus seinen schwarzen glänzenden Augen an. Sie bildete sich ein, dass er ihr zuzwinkerte, aber das konnte natürlich nicht sein. Ebenso wenig wie ein Vogel an ein Fenster klopfen und Einlass begehren konnte.
Sie lief zur Tür, öffnete sie und rief nach ihrer Schwester. Doch im Haus blieb alles still.
Fiona ging barfuß die Treppe hinunter. Die Holzstufen fühlten sich unter ihren nackten Fußsohlen angenehm glatt an. »Dawn?«, rief sie, unten angekommen, erneut.
Wieder keine Antwort.
In der Küche war der Frühstücktisch gedeckt, und auf dem Teller lag ein Zettel.
Liebe Fiona,
ich muss zur Arbeit, und weil Du noch so fest schläfst, will ich Dich nicht stören. Mach Dir wegen Catriona keine Sorgen. Tagsüber ist sie meistens nicht sichtbar, und Mim war sich ganz sicher, dass sie uns nichts tun würde.
Ich bin gegen vier wieder da. Wenn Du Lust hast, kannst Du Dir in der Zwischenzeit das Zauberbuch ansehen.
Das Frühstück für Lillybeth liegt auf dem blauen Teller. Sie wird sich bei Dir melden.
Wir sehen uns heute Nachmittag!
Deine Schwester Dawn
Dawn war also zur Arbeit gegangen. Bis jetzt hatte Fiona sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, womit sich ihre Schwester eigentlich ihren Lebensunterhalt verdiente. Dawn hatte zwar am Rande erwähnt, dass sie den gestrigen Tag freigehabt und ihn für den Ausflug zu den alten Frauen an der Küste genutzt hatte, aber es hatte so viel anderes gegeben, worüber sie reden mussten, dass Fiona versäumt hatte, Dawn nach ihrer Beschäftigung zu fragen.
Bei dem Gedanken, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welchen Beruf Dawn ausübte, spürte Fiona einen schmerzhaften Stich in der Brust. Es gab so viel, was sie über das Leben ihrer Schwester nicht wusste. Aber sie hatten hoffentlich viel Zeit, das Versäumte nachzuholen und sich gegenseitig alle wichtigen und unwichtigen Dinge zu erzählen, die in ihrer beider Leben geschehen waren.
Am Rande des Küchentischs lag ein dickes ledergebundenes Buch. Offenbar war dies das Zauberbuch, das Dawn in ihrem Brief erwähnte. Vorsichtig strich Fiona mit den Fingerspitzen über den abgegriffenen Einband. Sie spürte eine seltsame Scheu, das Buch aufzuschlagen. Das hatte bis nach dem Frühstück Zeit. Aber wer war Lillybeth? Eine Nachbarin oder Freundin, die zum Frühstück vorbeikommen wollte, um sie kennenzulernen?
Auf einem Steingutteller mit blauer Lasur lagen ein paar Weintrauben, ein halber Apfel und ein Stück rohes Fleisch. Offenbar hatte Lillybeth einen recht außergewöhnlichen Geschmack. Oder sie machte eine ungewöhnliche Diät.
Tocktocktock.
Direkt hinter Fionas Rücken wurde nun an das Küchenfenster geklopft, und sie fuhr mit einem lauten Schrei herum. Der gestrige Tag hatte offenbar ihre Nerven ganz schön strapaziert.
Der Rabe da draußen ließ sich von ihrem Geschrei jedenfalls nicht beeindrucken. Er legte possierlich den Kopf schief und zwinkerte schon wieder mit dem linken Auge. In der Sonne leuchtete sein glänzendes Gefieder blauschwarz.
Fiona griff nach dem blauen Teller, nahm im Flur irgendeine Jacke vom Haken, schlüpfte in
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