Geisterlicht: Roman (German Edition)
tiefe Sehnsucht machte sich in ihm breit. Eine Sehnsucht, von der er wusste, dass er sie allein nie würde stillen können. »Nicht weinen. Alles wird gut. Nicht weinen«, murmelte er wieder und wieder.
Schließlich verebbten Fionas Schluchzer. Sie hob den Kopf und wischte sich mit einer ungeduldigen Handbewegung über die Augen. »Tut mir leid. Normalerweise weine ich nicht.« Ihr Lächeln misslang kläglich.
Ohne nachzudenken, beugte er sich vor, berührte mit seinen Lippen zärtlich ihren bebenden Mundwinkel und zuckte zurück, weil sich im selben Moment sein Verstand wieder einschaltete. Doch dann machte er den Fehler, in ihre Augen zu sehen, die immer noch feucht schimmerten. Und es war, als würde sich seine Sehnsucht in ihren Pupillen widerspiegeln. Da zog er sie entschlossen an sich und küsste sie, mitten auf der Straße, während der Herbstwind die Blätter um sie herumtanzen ließ und die ersten Regentropfen vom Himmel fielen. Als sie erst zögernd, dann immer leidenschaftlicher seinen Kuss erwiderte, wurde ihm so heiß, als würden Flammen über seine Haut züngeln. Erschrocken löste er seine Lippen von ihrem Mund.
Auch Fiona schien verwirrt. Sie legte die Hände auf seine Brust und schob ihn weg.
Plötzlich bemerkte er, dass er seine Jacke im Wagen gelassen hatte. Er räusperte sich und schaute hinauf in den grauen Regenhimmel, als würde er dort die Antwort auf die Fragen finden, die in seinem Kopf kreisten wie in einem außer Kontrolle geratenen Karussell. »Ich werde dich abschleppen«, sagte er schließlich zu ihr.
Fiona nickte und starrte ihn verwundert an. Offenbar begriff sie ebenso wenig wie er, was da eben schon wieder zwischen ihnen passiert war. Schließlich kannten sie sich kaum, und er war definitiv nicht in sie verliebt. Er fand sie anziehend, aber Liebe… so etwas passierte in seinem Leben nicht mehr. Schließlich hatte er häufig genug Schiffbruch erlitten, wenn er sich auf eine Frau eingelassen hatte. Sympathie, Freundschaft, Mitgefühl, das alles durfte es geben, aber Liebe – nie wieder.
Als er Fiona schmal und blass, mit weit aufgerissenen grünen Augen vor sich stehen sah, wusste er jedoch, dass er sich um sie kümmern musste. Aus Sympathie und aus Freundschaft. Sie war fremd hier, es ging ihr offensichtlich nicht gut, und ihre Schwester war sicher bis zum Nachmittag in der Schule. »Setz dich ins Auto«, übernahm er entschlossen das Kommando.
Als Fiona die grüne Tür des kleinen roten Wagens öffnete, krächzte ein Rabe im Wipfel einer Schottischen Kiefer neben der Straße. Erst jetzt begriff Aidan, dass nicht irgendein wilder Vogel ihn eben vor der Kurve zum Bremsen gezwungen hatte, sondern Dawns Räbin, die an diesem Tag offensichtlich mit Fiona unterwegs war. Er nickte dem Tier zu, und der Vogel schaute mit schiefgelegtem Kopf zu ihm herunter.
Während er das Abschleppseil befestigte, dachte er über den wunderlichen Raben und die seltsamen Schwestern nach. Vor ein paar Hundert Jahren, in weniger aufgeklärten Zeiten, hätte man derart außergewöhnliche, betörende Frauen, die noch dazu mit Tieren sprachen, als Hexen verbrannt.
Nachdem er das Warndreieck wieder eingesammelt hatte, stieg er endlich in sein warmes Auto. Fiona hatte die ganze Zeit geduldig hinter dem Steuer des roten Citroens gesessen und gewartet. Er würde sie mit nach Sinclair Castle nehmen, ihr etwas zu essen machen und dafür sorgen, dass sie sich wieder besser fühlte. Es war doch Pflicht, sich um seine Nachbarn zu kümmern, oder etwa nicht?. Und dabei spielte es keine Rolle, dass Fiona und er sich nun schon zum zweiten Mal geküsst hatten.
Neuntes Kapitel
»Warum hast du mich nicht einfach nach Hause gebracht?«, stieß Fiona hervor, als Aidan im Burghof die Tür des Autos öffnete, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
Nach dem Schock, den der Eintrag im Kirchenbuch ihr versetzt hatte, und erst recht nach dem Kuss auf der Straße, fühlte sie sich nicht in der Lage, Zeit mit Aidan zu verbringen. Sie musste sich erst wieder beruhigen, musste wieder Boden unter den Füßen spüren – und vor allem musste ihr Herz aufhören, ihr bis zum Hals zu schlagen.
Dieser Mann gehört meiner Schwester. Er gehört Dawn. Das hatte sie sich immer wieder gesagt, während Aidan sie mit seinem Geländewagen die schmale Straße entlanggezogen hatte. Erst als die hohen Mauern der Burg vor ihr aufragten, bemerkte sie, dass er sie nach Sinclair Castle gebracht hatte.
»Es ist nicht gut, wenn du jetzt allein bist«,
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