Geisterlicht: Roman (German Edition)
war sich Fiona wirklich sicher, dass Catriona stumm um Hilfe flehte. Und sie war bereit, alles zu tun, damit ihre traurige Ahnfrau nach all den qualvollen Jahren endlich ihre Ruhe fand.
Elftes Kapitel
Als irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss fiel, fuhr Fiona hoch. Sie richtete sich im Bett auf und stellte fest, dass der Septembermorgen sein erstes mattes Licht ins Zimmer warf.
Offenbar hatte ihre Schwester soeben das Haus verlassen. Sie wollte schon früh mit den Schülern und einem Bus zu einer einsam gelegenen Jugendherberge fahren, von wo aus die Klasse ausgedehnte Wanderungen unternehmen würde.
Mit einem Seufzer ließ Fiona den Kopf wieder auf ihr Kissen sinken. Ein oder zwei Stunden konnte sie schon noch schlafen, bevor sie sich auf den Weg nach Sinclair Castle machte, um in den alten Büchern im Turmzimmer nach weiteren Hinweisen auf Catrionas und Arthurs Geschichte zu suchen.
»Fiona!«
Die Stimme hallte merkwürdig durch den Raum und schien von weit her zu kommen. Doch als Fiona sich hastig aufrichtete und mit weit aufgerissenen Augen ins dämmerige Zimmer starrte, stand Catriona stattdessen direkt neben ihrem Bett. Ihre Umrisse waren verschwommen, und Fiona meinte im grauen Dämmerlicht durch sie hindurch die gegenüberliegende Wand sehen zu können.
»Was …«, murmelte sie, obwohl es ihr unendlich schwerfiel, ihre Lippen zu bewegen. »Was willst du mir sagen? Der Fluch … erzähle mir von dem Fluch.«
Doch Catriona stand einfach nur stumm und bewegungslos da. Es war so dunkel im Zimmer, dass Fiona nicht einmal sehen konnte, ob der Geist neben ihrem Bett sie überhaupt ansah. Sie spürte, wie ihre Augenlider immer schwerer wurden, bis sie sie nicht mehr offen halten konnte. Dann spürte sie, wie sie in einen tiefen Schlaf fiel … und sah immer noch Catriona vor sich, die weiter bewegungslos neben ihrem Bett stand.
»Fiona«, flüsterte der Geist im grauen Kleid. »Folge mir, Fiona.«
Catriona breitete die Arme aus, und wegen des dunklen Umschlagtuchs, welches um ihre Schultern lag, wirkte es, als hätte sie Flügel. Die Wände des Zimmers wurden durchsichtig und verschwanden dann ganz. Fiona spürte immer noch die weiche Matratze unter ihrem Rücken, sah aber gleichzeitig unter sich die grünen Hügel und die schroffen Felsen der Highlands, über denen sie nun wie ein Vogel durch die Luft glitt. Über ihr war der bleigraue Morgenhimmel und vor sich erkannte sie undeutlich Catrionas Gestalt, die ebenso wie Fiona selbst einige Meter über dem Boden dahinflog. Catrionas Haare und ihre Kleider flatterten im Wind, und auch Fiona spürte den Luftzug, während sie sich ohne ihr Zutun immer schneller und schneller vorwärtsbewegte.
Sie flogen in Richtung Osten, auf den rosigen Schimmer am Horizont zu. Dann sah Fiona die Umrisse von Sinclair Castle. Ein sanfter Schreck und eine leise Freude durchliefen sie. Sie sehnte sich nach Aidan und hatte gleichzeitig Angst davor, ihn zu sehen.
Sie bemerkte erst, dass sie über die glatte Wasserfläche des Loch Sinclair glitten, als sie den See schon fast überquert hatten, und kam nicht mehr dazu, Angst zu haben. Vor ihr stieg Catriona in der Luft auf und flog auf den Turm zu, in dem sich Aidans Arbeitszimmer befand. Fiona folgte ihr. Sie konnte nicht anders.
Aus dem Turmfenster fiel Licht in den bleigrauen Morgen. Sie sah Aidan an seinem Schreibtisch sitzen. Er war in seine Arbeit versunken und bemerkte die beiden Frauen nicht, die sich Sinclair Castle durch die Luft näherten.
Catriona flog auf eine Mauer zwischen zwei Fenstern zu. Vor Schreck hielt Fiona die Luft an. Wenn ein Mensch in diesem Tempo gegen eine Steinwand prallte, bedeutete das seinen sicheren Tod. Doch Catriona stürzte nicht in die Tiefe, als sie die Mauer erreichte. Sie verschmolz mit dem sandfarbenen Gemäuer und verschwand.
Sekunden später erreichte auch Fiona die Stelle, wo sie eben noch Catrionas graue Gestalt gesehen hatte. Unaufhaltsam bewegte sie sich auf die Mauer zu und konnte nichts dagegen tun. Sie kniff die Augen zusammen und wartete auf den Aufprall und den Absturz. Dann gab es einen leichten Ruck, sie spürte den Wind nicht mehr, der eben noch in ihren Haaren geweht hatte, und als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich im Turmzimmer.
Durch die vorhanglosen Fenster fielen die ersten schwachen Sonnenstrahlen in den großen Raum. Aidan saß vor seinem Computer, und das Licht der Lampe fiel auf sein Gesicht. Er sah müde aus. Wahrscheinlich hatte er die Nacht
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