Geisterlicht: Roman (German Edition)
durchgearbeitet.
Als er den Kopf hob und sie ansah, zuckte sie erschrocken zusammen. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie plötzlich vor ihm stand? Noch dazu im Nachthemd?
Doch sein Blick ging durch sie hindurch. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rieb sich das Kinn, auf dem dunkle Bartstoppeln sprossen, und schaute durch das Fenster hinaus ins Tal. Obwohl sie nur wenige Schritte von ihm entfernt stand, bemerkte er sie nicht. Und auch Catriona, die wie ein grauer Schatten durchs Zimmer huschte, schien er nicht zu sehen.
Ein Traum , ging es Fiona durch den Kopf. Ich war schon einmal im Traum hier, und auch jetzt schlafe ich. Aber wieso war dann alles so real, noch realer, als jemals einer ihrer Träume gewesen war? Wieso spürte sie jede winzige Unebenheit des Bodens unter ihren nackten Füßen? Wieso nahm sie so deutlich Aidans inzwischen vertrauten Duft wahr? Sah wie unter einem Vergrößerungsglas die kleine Fliege, die dort über die Fensterscheibe krabbelte?
Fiona machte einen kleinen Schritt und dann noch einen, bis sie so dicht neben Aidan stand, dass sie ihn fast berührte. Der herbe Duft seines Shampoos kitzelte sie in der Nase. Es zuckte in ihren Fingerspitzen, und sie konnte nicht anders: Sie musste die Hand ausstrecken und sie vorsichtig auf seine Schulter legen. Und sie spürte ihn! Die Wärme seines Körpers und seinen Atem, als er den Kopf zur Seite wandte, als hätte er in der Ferne ein Geräusch gehört.
Fiona kam sich vor, als würde sie etwas Verbotenes tun. Denn Aidan wusste ja nicht, dass sie hier war, und sie berührte ihn ohne sein Einverständnis. Doch da es ein Traum war, durfte sie alles tun, was sie wollte und er würde es nie erfahren. Eigentlich tat sie ja auch nichts Besonderes. Es geschah alles ohne ihr Zutun. Und jetzt musste sie sich einfach über ihn beugen und ihm einen Kuss auf den Mundwinkel hauchen.
Als sie zögernd die Lippen von seiner Haut löste, bemerkte sie, dass er die Augen geschlossen hatte, als würde er einem Gefühl oder einer Erinnerung nachspüren. Dann hob er die Hand und legte die Spitze seines Zeigefingers genau auf die Stelle, wo eben noch Fionas Mund gewesen war.
Sie hielt die Luft an. Wie konnte es sein, dass er es spürte, wenn sie ihn in ihrem Traum berührte? Oder war dies doch kein Traum? Befand sie sich in einem Zwischenreich? In einer Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits? Hatte Catriona sie aus bestimmtem Grund hierhergebracht?
Sie schaute sich nach ihr um. Die durchscheinende graue Gestalt stand ihr gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs. Als Fiona sie ansah, erschrak sie. Catrionas grüne Augen, das Einzige, was an ihrer nebelhaften Erscheinung deutlich zu erkennen war, funkelten zornig. Sie deutete auf Aidan und schüttelte energisch den Kopf. Erschrocken wich Fiona zurück.
Sofort beruhigte Catriona sich. Nun war Fiona sich sicher, dass der Geist ihr etwas mitteilen wollte und sie deshalb hierhergeführt hatte. Abwartend sah sie die schmale Gestalt in dem zerschlissenen Kleid an.
Draußen wurde es rasch heller. Ebenso wie die Schreibtischlampe schwächer zu leuchten schien, wurden mit den ins Zimmer fallenden Sonnenstrahlen auch Catrionas Umrisse noch undeutlicher und ihre Gestalt noch durchscheinender. Ihre Gesichtszüge zerflossen und Fiona fühlte mehr, als dass sie es sah, das unendliche Leid, das in Catrionas Gesicht stand. Jedes Anzeichen von Zorn war verschwunden. Alles an der nebelhaften Gestalt schien um Hilfe zu flehen, und sofort spürte Fiona wieder das warme Mitgefühl. »Sag mir, wie ich dir helfen kann«, flüsterte sie.
Als hätte er ihre Stimme gehört, wandte Aidan den Kopf. Wieder blickte er in ihre Richtung – und durch sie hindurch. Doch Fiona musste sich jetzt auf Catriona konzentrieren. Die geisterhafte Gestalt wurde immer durchscheinender, während sie den Arm hob und auf Aidans Schreibtisch deutete.
Im selben Moment, in dem Fiona sich vorbeugte, um einen besseren Blick auf die Schreibtischplatte zu haben, streckte Aidan den Arm aus und blätterte seinen Terminkalender um. Die Nacht war vorüber, er schlug das Datum des neuen Tages auf.
Als Fiona es sah, durchlief sie ein eisiger Schauer. Es war der 3. September 1679. Dieses Datum war im Sterberegister der Kirche als Catrionas Todestag angegeben gewesen. Doch warum führte ihre Urahnin sie ausgerechnet an diesem Tag nach Sinclair Castle?
Fiona schaute sich suchend im Zimmer um und erspähte den durchscheinenden grauen Schatten jetzt
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