Geisterlicht: Roman (German Edition)
sein. Das Leder sah brüchig und abgegriffen aus, und als sie es vorsichtig aufschlug, stellte sie fest, dass die Seiten vergilbt und an den Rändern fleckig und ausgefranst waren. Sie waren eng mit einer zierlichen Frauenhandschrift beschrieben. Stellenweise war die blaue Tinte verwischt. Vielleicht weil die Schreiberin geweint hatte, möglicherweise war das Büchlein aber auch irgendwann einfach feucht geworden.
Als Fiona einige Seiten umblätterte, stellte sie fest, dass mehrere von ihnen am oberen Rand ein Datum trugen, was darauf hindeutete, dass es sich um ein Tagebuch handelte.
17. Mai 1678 las sie auf einer der ersten Seiten, und ihr wurde schwindelig. Catriona war im Jahr 1679 gestorben. Da sie es gewesen war, die dafür gesorgt hatte, dass Fiona das Büchlein buchstäblich in die Hände fiel, würde sie darin höchstwahrscheinlich Informationen über den Tod ihrer Urahnin finden.
Fiona schaute hinüber zu Aidan, der gedankenverloren auf den Monitor starrte. Wieder spürte sie die Kälte in ihren Adern, und erneut wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein in ihrem Körper war. Ihr Kopf senkte sich über das Buch, gleichzeitig sank sie auf einen Stuhl, der an der Wand neben dem Regal stand. Das Büchlein in ihren Händen schlug sich ganz von selbst bei der Seite mit dem Datum 12. September 1678 auf. Sie begann zu lesen.
Catriona ist seit jenem Tag meine Freundin, an dem wir uns auf dem Markt im Dorf begegnet sind. Sie half mir, die Äpfel aufzusammeln, die auf dem Boden herumrollten, als ich wegen meines kranken Beins gegen einen der Marktkarren gefallen war. Es passierte an einem jener Tage, an denen ich mich heimlich aus der Burg fortgestohlen hatte. Mrs Crawford hat mir verboten, allein ins Dorf zu gehen, aber wann immer es mir gelingt, tue ich es trotzdem.
Seit mein Bruder Mrs Crawford als Gouvernante zu uns geholt hat, damit sie »sich um meine Erziehung kümmert«, ist mein Leben ziemlich kompliziert geworden. Arthur meint, er sei es mir schuldig, dass sich eine »reife, weibliche Person« um mich kümmert, wenn ich schon keine Mutter und keinen Vater mehr habe. Dabei bin ich bisher gut zurechtgekommen, wenn ich natürlich auch manchmal traurig bin, dass Vater und Mutter damals bei dem schrecklichen Unfall mit der Kutsche ums Leben gekommen sind.
Ich habe meinen geliebten Bruder Arthur, ich habe Agatha, unsere Köchin, die mir zeigt, wie man Brot backt und sich die Haare ordentlich flicht, und ich habe die Mädchen aus dem Dorf, die zum Saubermachen kommen und zwischendurch mit mir reden, singen und die Bilder in meinen Büchern betrachten. Ich weiß wirklich nicht, wozu ich eine immerzu schlecht gelaunte Frau brauche, die rechts und links vom Mund tiefe Falten, eine spitze Nase und lauter schwarze Kleidern hat. Mrs Crawford sieht aus wie eine Saatkrähe, und eines Tages werde ich ihr das sagen.
Seit dem Apfelunfall habe ich eine Freundin. Wir sind fast genau gleichaltrig und haben auch sonst viel gemeinsam. Beide lieben wir Blumen und Tiere – und seit neuestem wohl auch meinen Bruder Arthur!
Obwohl es Mrs Crawford nicht gefällt, habe ich nach unserer Begegnung auf dem Markt durchgesetzt, dass Catriona mich besuchen darf. Zum ersten Mal kam sie nach Sinclair Castle, als mein Hündchen Max krank war. Catriona hatte mir erzählt, dass sie sich mit Kräutern und Salben auskennt, genau wie ihre Mutter und ihre Großmutter. Und als Max‘ Pfote anschwoll, als er Fieber bekam und nichts mehr fressen wollte, weinte und flehte ich so lange, bis ich eines der Mädchen nach Catriona schicken durfte.
Sie eilte sofort herbei, brachte einen Korb voll Kräuter mit, kochte in der Küche einen Sud, tränkte einen Lappen damit und wickelte ihn Max um die Pfote. Schon nach kurzer Zeit ging es ihm besser, und nach drei Tagen, in denen ich den Lappen immer wieder frisch tränkte und ihm außerdem tropfenweise eine Art Tee einflößte, den Catriona ebenfalls gebraut hatte, konnte er wieder munter in der Gegend herumlaufen.
Schon bei ihrem ersten Besuch begegnete Catriona meinem Bruder Arthur. Er lächelte sie auf seine freundliche Art an und lud sie ein, mit uns zu Abend zu essen. Mrs Crawford wollte protestieren, weil sie ja nur ein armes Mädchen aus dem Dorf ist und ich die Schwester des Laird, aber Arthur ließ sie nicht ausreden.
»Sie ist Rodinas Freundin, und sie wird mit uns essen«, bestimmte er.
Mrs Crawford wagte nicht, ihm zu widersprechen. Später bestimmte Arthur, dass Catriona mich besuchen
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