Geisterlicht: Roman (German Edition)
spielen.
»Ist das nicht der Rabe, den deine Schwester gezähmt hat?« Fragend schaute Aidan Fiona von der Seite an und spürte einen Stich im Herzen, als er ihr fein gezeichnetes Profil sah.
»Lillybeth«, bejahte sie seine Frage. »Eine Räbin. Dawn ist auf Klassenfahrt, und jetzt fliegt sie hinter mir her. Sie hat aber auch heute Morgen ihr Frühstück von mir bekommen.«
»Ein erstaunlicher Vogel.« Das hatte er schon immer gefunden, doch noch überraschender war es, dass Lillybeth, die Räbin, nun auch Dawns Schwester folgte, als wüsste sie, dass beide zu einer Familie gehörten.
»Da unten steht Dawns Auto.« Fiona deutete mit dem Zeigefinger auf eine Kurve der schmalen Straße, die herauf zum Burgtor führte. »Es wollte mal wieder nicht weiter.«
»Leider werde ich dich heute nicht abschleppen können. Mein Wagen ist selbst in der Werkstatt, ich bekomme ihn erst morgen wieder.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern und ertappte sich dabei, dass er sich fragte, ob sie unter diesen Umständen wohl über Nacht blieb. Und bei diesem Gedanken stellte er sich erstaunlicherweise nicht vor, dass sie das Bett mit ihm teilte, sondern er dachte an ein gemeinsames Abendessen vor dem Kamin, an ein langes, angenehmes Gespräch und ein heiteres Frühstück zu zweit. Auf Sinclair Castle gab es zahlreiche Schlafzimmer, so dass er problemlos zehn oder mehr Gäste hätte beherbergen können. Es war ein seltsames Gefühl, Fiona zu begehren, aber keinerlei Ungeduld dabei zu verspüren, sondern stattdessen einfach ruhig abwarten zu können, was geschehen würde.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, wand Fiona sich nun aus dem engen Sessel, den sie sich bis zu diesem Augenblick geteilt hatten, und setzte sich ihm gegenüber hin. Dabei fuhr sie sich energisch mit beiden Händen über das Gesicht, als wollte sie ihm mitteilen, dass die Phase ihrer Unzulänglichkeit jetzt vorüber war.
»Ich komme schon irgendwie zurück nach Hause«, bemerkte sie nach einer längeren Pause, während sie beide immer noch hinaus in den stürmischen Tag starrten. »Sicher klappt Dawns Autotrick, wenn ich ihn nochmal versuche.«
Er schaute hinunter zu dem roten Fleck am Straßenrand, der durch den immer heftiger fallenden Regen nur noch undeutlich zu erkennen war. »Wenn du bei diesem Wetter bis dort hinunterläufst, kommst du vollkommen durchnässt beim Auto an.«
»Ich kann mich ja umziehen, wenn ich zu Hause bin.«
»Falls es dir tatsächlich gelingen sollte, das Auto in Gang zu bringen.« Aidan zog die Brauen hoch, um ihr zu zeigen, für wie unwahrscheinlich er es hielt, dass sie einfach in das alte Auto einstieg und losfuhr. Schließlich erlebte er nicht zum ersten Mal, dass der Wagen den Dienst versagte, wenn sie damit unterwegs war.
Auch sie runzelte die Stirn und starrte ihn unnachgiebig an. Doch plötzlich wandte sie den Kopf, als hätte sie von draußen etwas gehört. Dort heulte jedoch nur der Sturm. Dennoch schaute Fiona angestrengt hinunter auf die Straße.
Er richtete seinen Blick ebenfalls dorthin und stutzte. »Siehst du das auch?«
Wie ertappt fuhr sie zu ihm herum. »Was meinst du?« Ihre Stimme klang gepresst und ein wenig atemlos.
»Da läuft doch jemand die Straße entlang! Dort unten, fast schon beim Auto.«
Fiona schüttelte den Kopf, während sie immer noch hinaus in Regen und Sturm starrte. »Ich sehe nichts.«
»Bei diesem Regen kann man es auch wirklich nur sehr undeutlich erkennen, aber ich meine, da geht jemand. Sieht aus wie eine Frau in einem langen grauen Kleid.« Er stand auf und trat ans Fenster, doch auch von dort konnte er nicht besser sehen, weil das Wasser in breiten Rinnsalen an der Scheibe hinunterrann.
Fiona trat neben ihn, sah hinaus und schüttelte energisch den Kopf. »Wer sollte denn bei diesem Wetter unterwegs sein? Diese Straße führt doch nur zur Burg herauf, nicht wahr? Und da niemand hier war, kann auch niemand Sinclair Castle verlassen. Oder hast du eine Haushälterin oder etwas in der Art?« Sie sah ihn von der Seite an.
»Habe ich. Eine Frau aus dem Dorf kommt zwei Mal in der Woche und kümmert sich um den Haushalt. Aber sie kommt erst morgen wieder.«
»Na also!« Fiona ließ sich in ihren Sessel fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Als Aidan ihren abweisenden, fast strengen Gesichtsausdruck sah, konnte er kaum glauben, dass diese Frau noch vor einer knappen Viertelstunde verzweifelt geschluchzt und ihm erlaubt hatte, sie zu trösten. Er warf einen letzten Blick
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