Geisterstadt
Holzboden, lag ein dickes Bündel, das entfernt an Sackleinen erinnerte. Chess streckte die behandschuhten Finger danach aus, aber Lauren war schneller.
Ihre nackte Haut berührte das Leinen. Energie erhellte den Raum wie ein Blitz, brüllende, ungezügelte Energie. Chess sah, wie Laurens Miene sich änderte, wie ihre Augen sich weiteten, und dann ... Verdammte Scheiße, was zur Hölle war denn das?
Nicht nur Laurens Gesichtsausdruck hatte sich verändert - sondern ihr ganzer Kopf. Ihre Gesichtszüge. Das Haar. Für den Bruchteil einer Sekunde sali Chess eine zweite Frau an ihrer Seite, wie bei einer Doppelbelichtung, bevor Lauren einen Schrei ausstieß, das Bündel aus den zitternden Fingern fallen ließ und panisch von der Truhe zurückwich.
»Bist du okay? Dein Gesicht hat sich verändert, es ...«
»Alles in Ordnung.« Lauren kauerte sich mit verschränkten Armen und angezogenen Knien an die gegenüberliegende Wand. »Mir geht’s gut.«
»Du ...« Nein. Im Unterschied zu dir habe ich jedenfalls vor, diesen Fall zu lösen. Das tat immer noch weh. Außerdem bezweifelte sie, dass Lauren überhaupt mit ihr reden wollte. Und was noch wichtiger war: Sie wollte es auch nicht.
Stattdessen streifte sie sich einen zweiten Handschuh über und hob das Ding vorsichtig aus der Truhe. Selbst durch die Latexhülle über ihren Händen kribbelte die Energie ihr noch in den Armen; für einen Moment trübte sich ihr Blick und wölbte sich an den Rändern, als würde sie durch ein Fischglas schauen. Lauren keuchte hinter ihr.
»Chess, dein Gesicht!«
»Was?« Es war eine Erleichterung, das Bündel wieder hinzulegen. Leider würde das nicht anhalten; sie musste die schmutzige Schnur aufknoten, die den Stoff zusammenhielt. Oder lieber doch nicht aufknoten. Sie zog das Messer aus der Tasche und schnitt sie einfach durch.
»Dein Gesicht ... es hat sich verändert. Du hast ausgesehen wie jemand anders.«
»Genau wie bei dir, jedenfalls ganz kurz.«
Lauren sagte noch etwas, aber Chess hörte gar nicht mehr hin.
Der Leinenstoff glitt zurück, und ihr rutschte das Herz in die Hose, als sie genau das sah, was sie erwartet hatte.
Noch ein Krötenfetisch. Aber diesmal wusste sie genau, wozu er gut war. Die Veränderung an Laurens Gesicht und das gruselige Kribbeln, das ganz eindeutig Geist bedeutete, verrieten es ihr nur allzu deutlich, so bizarr und unglaublich es auch war.
Sie hatte es mit einem Tarnzauber zu tun. Er war verstärkt durch gebundene Geister, angetrieben durch das Füllmaterial, das sich im Inneren verbarg, und das unvorstellbare Opfer, das Maguinness dargebracht haben musste, um diese geballte, krankhafte Energie zu erschaffen, die das Atmen schwer machte. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass derart mächtige Tarnzauber überhaupt existierten. Das hier war eine Tarnung, die über die reine Illusion weit hinausging und stattdessen eine echte Verwandlung bewirkte. Das also hatte Maguinness’ Tochter ihr auf dem Markt wieder abluchsen wollen. Chess hatte die einzelnen Zutaten auf Edsels Theke ausgebreitet, und dort musste das Kind sie gesehen und wiedererkannt haben. Darum hatte sie auch behauptet, sie würde nicht stehlen. Der Lamaru-Fetisch stammte von Maguinness.
Die meisten Tarnzauber erschufen nur eine Oberfläche, die sie, wie alle Hexen, durchschauen konnte. Wie bei der Tür, die die Tunnel der Lamaru mit Maguinness’ Behausung verband - sie hatte sie erkannt, und sogar Terrible hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Aber das hier ... Es verbarg, die Dinge nicht nur, es veränderte sie. Heilige Scheiße! Von so etwas hatte sie noch nie gehört.
Im Kopf spielte sie die Möglichkeiten durch, eine schlimmer als die andere. Zaubersprüche, die von Seelenkraft befeuert wurden, stärker noch als die, die Monate zuvor der Traumdieb eingesetzt hatte. Menschen, die Geister beherbergten und dabei nicht aufzuspüren waren; Wiedergänger in lebendigen Körpern, wobei die Seele der Hexe so untrennbar mit dem Geist verbunden war, dass sie wie eins erschienen und auch als Einheit handelten. Jederzeit konnten sie gemeinsam den Körper verlassen und nach Herzenslust umherstreifen, fliegen und Böses tun.
Diese Macht hielt sie jetzt in den Händen. Die Möglichkeiten waren schrecklich. Und all das war das Werk eines Mannes, der in diesem Moment überall sein konnte, wer weiß was anstellte - und sie konnte nichts dagegen tun
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Die Kirche stellt Psychopomps nicht deshalb zur Verfügung, weil nur Psychopomps
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