Geisterstadt

den Blick. Senkte den Blick und sah, dass der Boden zu Laurens Füßen leer war. Der Rauch war noch nicht in der unteren Raumhälfte angekommen; was sie sah - oder besser gesagt: was sie nicht sah - ließ sich also nicht mit verschwommenem Blick oder einer optischen Täuschung oder dergleichen erklären.
    Oh Kacke!
    Die Schädel waren nicht mehr da. Die Raben hatten immer noch feste Gestalt. Sie waren in die Stadt verschwunden und hatten ihre Schädel mitgenommen, hatten immer noch körperliche Gestalt. Sie hatten Lauren nicht gehorcht, hatten ihre Abrichtung durchbrochen, ihrem Instinkt zuwidergehandelt und gegen so ziemlich jede magische Regel verstoßen, die Chess kannte.
    Ihr Kopf wollte sich nicht drehen; sie wollte am liebsten gar nicht wissen, ob sich das Loch zwischen den Welten hinter den Raben ordnungsgemäß geschlossen hatte. Je länger sie nicht hinsah, desto länger konnte sie sich noch belügen - eine Fertigkeit, die jede Menge Übung erforderte, und sie war Meisterin darin - und so tun, al s hätte sich das Loch geschlossen, als könnte sie es nicht noch spüren, als bemerkte sie den leisen Schauer auf ihrer schweißnassen Haut nicht.
    Sie zwang sich hinzuschauen und drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Raben herausgeschossen kamen und sich auf sie stürzten.

18
    Die Erschaffung eines Psychopomps ist ein komplexer Vorgang, den nur befugte Kirchenmitarbeiter durchführen dürfen. In ihre Hände allein legen wir die Sicherheit der gesamten Menschheit.
    Karriere machen in der Kirche.
    Ein Leitfaden für junge Leute von Praxis Tumip
    Der Tod ereilte sie in Form rauschender schwarzer Schwingen und glänzender schwarzer Körper, die viel zu groß für den Raum waren. Die Raben rissen ihr die Luft aus den Lungen und die Gedanken aus dem Kopf. Sie kamen, um sie zu holen, und es gab kein Entkommen. Wie zur Hölle sollte man einem Psychopomp entfliehen?
    Erst mal aus dem Scheißbüro rauszukommen wäre vielleicht ein Anfang. Beinahe wäre ihr Laurens Ärmel aus den Fingern geglitten, als sie sie beide gerade noch rechtzeitig zu Boden riss, um den herabsausenden Krallen zu entgehen, die nach ihnen angelten wie die Haken im Schlachthof nach den toten Kühen.
    Eins musste man Lauren lassen, sie war fix im Kopf. Meistens kam sie zu den falschen Schlüssen, aber ein rascher Verstand hatte schon so seine Vorteile. Sie hatte bereits die Pistole in der Hand; kaum schlugen sie am Boden auf, hatte sie auch schon angelegt und geschossen. Chess stieß innerlich einen Schrei aus, ließ aber nicht wirklich etwas hören. Stattdessen hämmerte sie sich zur Ablenkung die Faust heftig gegen den eigenen Oberschenkel. Für so was hatten sie keine Zeit. Hatten keine ...
    Mistehweige. Sie hatte immer noch die Mistelzweige aus diesem abscheulichen Totem in ihrer Tasche. Das würde die Raben zwar nicht Zurückschlagen, da war sie sich ziemlich sicher, aber es verschaffte ihnen vielleicht ein paar wertvolle Sekunden, und mehr brauchten sie gar nicht. Nur gerade so viel Zeit, dass sie es zur Tür hinaus schafften.
    Feuer kroch über die Decke. Im Gegenlicht wirkten die Raben größer als zuvor, leere Umrisse im tosenden Inferno.
    Lauren schoss ein zweites Mal. Der Schädel des Raben, der ihnen am nächsten war, explodierte in einer Wolke von Knochensplittern und Staub, die sich im Rauch verlor. Kein Blut. Keine Hirnmasse.
    Chess hatte nie herausgefunden, ob Psychopomps eigentlich wirklich wieder lebendig wurden und bei ihren kurzen Einsätzen als atmende Wesen mit schlagenden Herzen unterwegs waren. Sah jetzt aber nicht so aus. Sie waren gar keine Tiere, sondern einfach nur wiederbelebte Kadaver, leere Hüllen voller Instinkte und Magie.
    Noch ein Schuss. Einer der Raben verlor eine Flügelecke. Federn und Knochen flogen durch die Luft, und winzige Hautfetzen verschwanden in den Flammen über ihren Köpfen.
    Und noch ein Schuss. Daneben. Kein Wunder - der Rauch, der die Luft vernebelte, erschwerte mehr und mehr die Sicht.
    Chess gab auf. Ihre Finger zitterten, als sie mit dem Plastikbeutel voller Mistelzweige kämpfte. Endlich riss sie ihn auf und zog die Blätter heraus.
    Wenigstens musste sie nicht erst ein Feuer anzünden. Laurens kleiner Kräuterhaufen schwelte in ein paar Schritt Entfernung immer noch vor sich hin. Chess hätte die Mistelzweige auch in die Luft werfen können, sodass sie das Inferno über ihren
    Köpfen verschlungen hätte, aber dann wären sie zu schnell verbrannt. Stattdessen holte sie