Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
`und hatte dabei vergessen zu leben.` Sie
ist sehr schön, dachte sich Nicola, als er ihre gerade Nase
betrachtete, ihre geschwungene Augenbraue bewunderte, ihre knochigen
Finger in seiner warmen Handgrube spürte. `Sie hatte sich
aufgegeben und ihre Augen hatten sich vor dem Elend und vor der
Ungerechtigkeit in der Welt verschlossen, mit Hilfe der Blausäure,
ist ganz einfach, ein einziger winziger Tropfen, ganz langsam in ein
Auge eingeträufelt.` Er bemerkte ihre rosa farbigen Lippen in
dem blassen Gesicht. `Sie wollte den Menschen helfen, sich aber nicht
für jegliche Hilfe rechtfertigen müssen, können sie
das verstehen, mit Blausäure, ganz einfach. Jetzt sieht sie auf
einem Auge gar nichts mehr und das andere Auge ist noch in
Behandlung. Die Ärzte werden das sicherlich hinbekommen, aber
ich weiß nicht, ob meine Schwester überhaupt noch etwas
erkennen möchte in ihrem Leben, können sie das verstehen?.`
Nicola überlegte, ob er tatsächlich verstand. Sie wandte
den Kopf zu ihm und sah an ihm vorbei. Er roch ihren warmen Atem, er
drückte ihre knochigen Finger, wollte sie trösten, war sich
des tosenden Flusses bewusst, wollte ihr Worte der Zuversicht
zukommen lassen, verspürte nur eine beklemmende Wärme,
wollte ihren warmen Atem wieder aufnehmen, war sich bereits des
aufkommenden Sturmes sicher und konnte sein Verlangen, ihre rosa
farbigen Lippen auf den seinigen zu spüren nicht unterdrücken.
`Sie wollte doch jedem helfen, wohl der gesamten Menschheit, aber
einen Dank wollte sie nie dafür`. Sie sah ihn mit einem
lauernden Katzenauge an, sah oder sah nicht sein aufkommendes
Verlangen, konnte oder konnte nicht seine Begierde in seinem jungen
Körper fühlen und bemerkte zuletzt ihre kalte Stirn an
seiner glühenden Wange, nahm doch seinen feurigen Atem in sich
auf und so ließen beide den tosenden Fluss und den zügellosen
Sturm für einen wahrhaftigen Moment vergessen. Ihre knochigen
Finger tasteten sich zu seinem Gesicht, fuhren seinen Nasenrücken
entlang, über seine schmale Augenbraue und über seine
aufgedunsenen Lippen. `Wie heißt deine Schwester?´
´Leila. Ich heiße Leila`. Nicola erhob sich von der
dunkel angestrichenen Bank, vergaß seine dunkelblaue
Posttasche, reichte Leila die Hand und ging hoch erhobenen Hauptes,
allen stürmischen Widerständen zum Trotz den Weg zurück,
mit der Erkenntnis der Wahrhaftigkeit eines bislang nicht gelebten
Lebens. Nicola war sich sicher, den richtigen Weg einzuschlagen,
vorurteilslos, ohne Verirrungen, ohne jeglichen Dankes, würde er
diese Frau durch den Sturm des Lebens begleiten und an ihrem dunklen
Dasein teilnehmen und Nicola ging den Weg geradeaus, nicht ohne dabei
über das zufriedene Lächeln des Menschen neben sich bewusst
gewesen zu sein.
Und es
folgten schöne herrliche Tage. Es waren Tage, für die es
sich lohnte, da zu sein und sie wahrhaftig zu leben. Aber selbst
solche Tage vergehen, so wie jeder Tag am Ende geht und des Abends
vergangen ist. Und Nicola sitzt und überlegt, wann der Tag
herein brach, der ihn aufhören ließ, die Briefe zu
verteilen und ihn anfangen ließ mit den Karten zu spielen. Er
überlegte und wusste nicht einmal, wo er seine dunkelblaue
Posttasche gelassen hatte. Er wusste weder, wo der Anfang war und
wann das Ende erfolgte oder beides gleichzeitig und nur anders herum.
Die Erdkugel drehte sich im Kreis und so drehte sich auch sein Leben.
Seine Gedanken waren seit seiner Kindheit verdreht und ebenso konnte
er jetzt im Erwachsenenalter genauso wenig den Anfang und das Ende
ausmachen. Alles hatte sich vermischt und verirrt und er war
leibhaftig mittendrin, mitten in diesem Karussell. Seine Posttasche,
sie war nicht mehr unter der dunkel angestrichenen Bank, denn das war
viele Jahre her und längst vorbei. Er musste sie wahrscheinlich
eingetauscht haben, in der Kneipe, weil er im Spiel wieder verloren
hatte. Und er überlegte, wo er seine Leila gelassen hatte, denn
die hatte er ebenso irgendwann und irgendwo verloren und fand sie
einfach nicht mehr. Aber manchmal will ihm scheinen, dass durch dem
Fenster einer seiner vielen Kneipen ihr Gesicht zu sehen, ihre
giftgrüne Mütze auszumachen gewesen wäre und an ihrer
Hand der kleine Fjodor. Und während Nicola auf das Fenster
starrt und aufstehen möchte, ist das hübsche, traurige
Gesicht bereits verschwunden, für immer verschwunden, die Mütze
dahinter bleibt verschwunden und auch Fjodor, sein kleiner Sohn ist
für immer verschwunden. Und Nicola setzt sich wieder hin
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