Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
drehe mich nicht um. Ich habe Angst mich um
zudrehen. Ich habe Angst vor der Wahrheit. Ich möchte nicht
sehen müssen, dass du dich bei einem anderen dummen Briefträger
eingehakt hast. Ich möchte nicht, dass du dich einem Menschen
anvertraut hast, der ebenso Hoffnungen mit sich herum trägt, wie
ich es damals getan hatte. Ich habe Angst zu sehen, er könnte
dir deine Wünsche und deine Träume erfüllen, zu dem
ich niemals fähig sein werde. Und ebenso habe ich Angst in
seinen Augen zu sehen, dass er davon gar nichts vor hat und dich nur
benützt, wie ein Stück Dreck. Verfolge mich nicht mehr. Ich
könnte dir so oder so nicht helfen. Ich kann niemandem helfen,
mir am allerwenigsten. Und so sitzt Nicola immer noch auf seinem
Stuhl und starrt auf den Regen hinaus. Sieht und sieht nicht wirklich
die Regentropfen an seinem Fenster klopfen. Und das ganze Leben kommt
ihm wie der Wahnsinn vor. Das Leben an sich kann nicht normal sein,
da es einfach nur unverständlich ist, nicht erklärbar ist
und einfach ist, ja, aber nicht unkompliziert. Es ist wie ein Rätsel,
das es zu lösen gilt. Aber Nicola ist kein Denker und kein Löser
von Rätseln. Er kann nichts lösen und weiß nichts zu
erraten. Er versteht nicht einmal die Frage, die das Leben an ihn
stellt. Er begreift die Lebensfrage nicht, wie kann er sich da um die
Antwort kümmern. Die Menschen müssen verrückt werden.
Von ganz alleine und ganz automatisch. Diejenigen, die nicht verrückt
werden, die haben nichts begriffen. Die Verrückten haben längst
verstanden, dass der einzige Weg zu überleben, derjenige ist,
verrückt zu werden. Das wäre ja alles halb so schlimm und
eigentlich wunderschön, wenn es da nicht dieses Mittelding gäbe.
Dass in der Mitte einer Treppe oder auf einer Straße stehen und
nicht wissen, wohin jetzt. Entweder hinauf oder hinunter. Geradeaus
oder wieder zurück. Im Meer zu schwimmen und nicht zu wissen, wo
sich die Insel befindet, auf der man eigentlich hin wollte. Mehr nach
links oder mehr nach rechts paddeln. Ein wenig verrückt werden
oder doch noch vernünftig bleiben, um die Umwelt zu begreifen
oder sich einfach blind und taub stellen. Es fehlt die eindeutige
Wende. Eine Richtung anzeigende Führung. So ist es ein halbes
und nichts ganzes. Keine große und auch keine kleine Insel ist
in unmittelbarer Nähe. Eine Straße auf der man steht, die
gekehrt ist und man trotzdem mitten im Dreck sich befindet. Keinen
sauberen und sicheren Untergrund, keine Basis, kein Nichts zu
greifen, nichts, um sich daran festhalten zu können. Nur ein
etwas verrückt sein, aber noch über allem die Kontrolle zu
behalten, nur aus Angst sich ganz fallen zu lassen. Immer diese Angst
vor allem und vor nichts. Kann es sein, dass man als Feigling schon
geboren wurde? Und Nicola sitzt weiterhin an seinem Tisch, so wie es
weiterhin regnen wird. Es wird schneien und regnen und dann wird die
Sonne wieder scheinen, als wäre nie wirklich etwas geschehen,
als hätte es gerade so sein müssen und ein Niemand hätte
diesen natürlichen Kreislauf aufhalten können. Aber so wie
er daran nichts ändern konnte, konnte er es nicht ertragen, wenn
ein Tier oder ein anderes Lebewesen ungerecht behandelt wurde,
vielleicht auch deshalb, weil es ihm selbst tausendmal widerfahren
war und ein Niemand ihm zur Hilfe kam. Aber irgendwie war es ihm,
dass er doch sehr ungerecht zu einigen Menschen gewesen sein musste.
Dieser Gedanke kam sehr schnell in seinen Kopf und so schnell wie es
sich eingeschlichen hatte, so schnell schlich es sich wieder heraus.
Eine Flasche Wein half ihm dabei alle Reue zu verbannen. Er liebte
die hoch gepriesene Gerechtigkeit, konnte sie aber nicht bei sich
selbst ausmachen. Er schien den anderen in sehr großem Maße
gerecht entgegen getreten zu sein, aber kein Mensch bei ihm. Er
fühlte sich schlecht behandelt, weil er sich nicht auf dieser
Erde willkommen fühlte. Er fühlte sich von einer anderen
Welt herkommend und ungerechtfertigt hier gestrandet worden zu sein.
Nicola fühlte sich nicht passend für diese Welt. Er griff
um sich und konnte sich an keiner Insel festhalten und so paddelte er
durch die Wogen der Meere, ohne je das Schwimmen gelernt oder es von
irgend Jemanden beigebracht bekommen zu haben. Das war schlimm genug
an sich, aber er war auch arm, unbedeutend und nichts sagend. So
wusste er sich früher, in seinem früheren Leben, in einer
anderen, viel schöneren Welt, als einen reichen, bedeutenden,
viel versprechenden und ordentlichen Mann.
Weitere Kostenlose Bücher