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Gelb-Phase: Mein Pöstchen bei der Post - Geschichten aus dem Intimleben des Gelben Riesen

Gelb-Phase: Mein Pöstchen bei der Post - Geschichten aus dem Intimleben des Gelben Riesen

Titel: Gelb-Phase: Mein Pöstchen bei der Post - Geschichten aus dem Intimleben des Gelben Riesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Wissen
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kryptischen Telegrammen zu tun hatten. Unter diesem Aspekt betrachtet konnte man die Denke der Oberen irgendwie verstehen. Jeder war sich selbst eben der Nächste.
    Es folgten drei Wochen, die größtenteils nichts anderes bedeuteten, als dass wir tagtäglich sinnfreie Texte unter Berücksichtigung telegrammdienstspezifischer Formvorgaben im Zehnfinger-System (das ich mir nach dem Kurs ganz schnell wieder abgewöhnte beziehungsweise nie wirklich beherrscht hatte – mit Zweien geht es einfach fixer!) in dieses Ding hämmerten, das ich bereits in Meerbusch gesehen hatte: eine schwarze stählerne Schreibmaschine, bei der auf der linken Seite ein circa fünf Millimeter breiter Klebestreifen raus kam, auf dem dann der Text abgedruckt war, den man auf ein Telegrammformular aufzukleben hatte.
    Was eine ziemlich eklige Angelegenheit war, an die man sich nur schwer und unter Abschaltung sämtlichen Kopfkinos gewöhnen konnte. Denn:
    Der Streifen war auf der Rückseite gummiert. Mit Hilfe eines scherenähnlichen Gerätes packte man ihn, sobald irgendwer irgendwo auf dem Planeten Erde ein Telegramm aufgegeben hatte, das die monströse Schreibmaschine selbständig tippte und dann auswarf, und fädelte ihn in eine Art Wanne ein, in deren Mitte sich eine Rolle befand, die … äh, ich habe soeben den Eindruck, dass das kein Mensch versteht, der nicht dabei war.
    Also kurz gesagt: Der Papierstreifen musste über diese mit Wasser gefüllte Wanne gezogen werden, damit das Ding kleben konnte. Und bei diesem Vorgang veränderte das Wasser i m Laufe eines Arbeitstages seine Konsistenz, weil immer etwas vom Klebstoff darin verblieb. Irgendwann sah es aus wie Sperma und stank wie Pipi – ja, tut mir Leid. Das was jetzt hier nur vor dem geistigen Auge des Betrachters entsteht: Wir hatten es jeden Tag live an den Fingern kleben und in der Nase stecken. Und wir bekamen dafür keine zwei Mark fuffzig Erschwerniszulage täglich, die andere Kollegen für weitaus angenehmere Tätigkeiten einstreichten!
    Ich beziehungsweise wir bestanden also den Telegrafie-Lehrgang mit vorausgesehener Bravour und ich konnte meine erste Schicht in der ETSt Meerbusch antreten. Zu jener Zeit waren Telegramme noch total in Mode. Was nicht verwunderte, denn von Email redete da noch niemand; und wenn es einer getan hätte, jeder hätte gedacht, der spricht über eine weiterentwickelte Backzutat. Selbst der Telefax-Dienst war noch in der Startphase, kaum jemand wusste dass es diese Fernkopien gab. Also schickten die Menschen, sollte eine Nachricht ganz schnell übermittelt werden, fleißig Telegramme.
    Ich persönlich hätte das ja nie gemacht, denn für einen Geburtstagsgruß im Miniformat mit Schmuckblatt zahlte man mal locker zwischen 15 und 20 Deutsche Mark. Und kaum jemand wählte die preiswertesten Schmuckblätter für 2 Mark – nein, es musste meistens das wahnsinnig lustige „LX M“ sein. „LX“ war grundsätzlich das Zeichen für den Aufklebebeamten: „Achtung, das Geschleime musst du noch mal sauber abtippen und in ein Schmuckblatt einkleben!“ Da war man schon begeistert … Aber wenn dann auch noch ein „M“ dahinter stand, dann steigerte sich diese Hochstimmung in pure Euphorie. Denn dann konnte man aus seiner Kiste mit den künstlerisch so hochwertvollen Fotokartonbildchen jenes ziehen, auf dem die Vorderseite eine Fotografie einer – Hui, Kreativität sprengte damals eben einfach alle Grenzen! – Geburtstagstorte zu sehen war. Und wenn man die Klappkarte dann öffnete, dann dudelte einem aus einem Chip in übelster Art und Weise „Happy Birthday to you …“ entgegen – genauso nervig wie das später in der Geschichte diese Klingelton-Frösche taten.
    Im Normalfall reichte es einem ETSt-Beamten schon, wenn man zweimal am Tag ein solches Ding öffnen musste. Aber es gab Tage, da hatte man einfach Pech … und genauer betrachtet: nahezu jeder Tag war ein solcher. Denn an jedem gottverdammten Tag hatte irgendjemand irgendwo in dieser 50.000-Seelen-Stadt Meerbusch einen 70., 75., 80., 90. oder gar 100. Geburtstag. Vielleicht auch eine Goldene, Eiserne oder andersmetallene Hochzeit. Das Schicksal wollte es so, dass meistens ein paar Dutzend dieser feierlichen Anlässe auf ein und denselben Tag fielen. ER fand also immer gleich mehrere Gründe, seine Salven abzuschießen. ER, das war der Politiker Willy Wimmer. Er gehörte der CDU an und wurde als solcher im tiefschwarzen Meerbusch immer und immer wieder in den Bundestag gewählt. Gefühlt

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