Geliebte des Feuers
vielleicht, damit ihr alles seht, was euch genommen wurde.«
»Und wenn nicht?«, wollte Dean wissen.
»Was haben wir zu verlieren?«, fragte Miri im Traum. »Und außerdem will ich wissen, ob wir in unseren Träumen wirklich dasselbe sehen. Wir machen das zusammen, stimmt’s?«
»Ich sorge für die Verbindung«, beschloss Ren. »Ihr habt gleichzeitig Zugang zu euer beider Träumen.«
Er griff nach ihren Händen, erst nach der Deans, und dann packte er Miris. Sobald er sie berührte, verschwand sogar ihre Traumwelt, und sie fiel, fiel endlos. Sie erwartete, auf dem Boden aufzuschlagen, aber das geschah nicht. Wie Alice in diesem Kaninchenbau konnte sie die Dinge um sich herum sehen, während sie sich bewegte. Vielleicht bewegte sich auch die Welt, und sie selbst stand still. Aber es flogen Fragmente ihres Lebens an ihr vorbei, winzige Filme, und ihr wurde klar, wie gut es eigentlich gewesen war. Sie hatte so viel Schönes in ihrem Leben erlebt, und das, was jetzt geschah, war nur ein weiterer Meilenstein auf ihrem Weg. Jedenfalls musste sie das glauben. Sie musste daran festhalten, dass sie noch ein Leben vor sich hatte, in dem sie Schönes finden würde.
Abrupt kam sie zum Stehen, als wäre sie mit einem Aufzug auf festem Boden aufgeschlagen. Als Miri stolperte, schien die Welt um sie herum unverändert zu sein, Wald, Wasser, Berge, nur lastete eine Art Gewicht in der Luft, das schwer von Alter war und die Ruhe eines Ortes ausstrahlte, der noch nie ein menschliches Leben gesehen hatte und dessen Majestät verdeutlichte, dass jedes Leben, ob groß oder klein, unter dem Gewicht einer solch endlosen Zeit unbedeutend war.
Wir vergessen, dachte Miri, während sie sich an all die Scherben der Vergangenheit erinnerte, die durch ihre Hände gegangen waren, wir vergessen, dass wir nichts sind.
Ren war verschwunden, aber Dean stand neben ihr und hielt ihre Hand.
»Wohin jetzt?«, fragte er.
Miri drehte sich einmal um ihre Achse. In der Ferne, zwischen den Bäumen, bemerkte sie etwas Dunkles, den Eingang zu einer Höhle. Furcht durchströmte sie bei diesem Anblick, aber sie zog an Deans Hand, und so setzten sie sich in Bewegung. Es hätte einige Minuten dauern sollen, bis sie die Höhle erreichten, aber nach wenigen Schritten, ein paar Sekunden nur, waren sie da und verrenkten sich fast die Hälse, als sie in den gähnenden Schlund blickten, der nur aus Fels und Schatten bestand. Im Inneren der Höhle schien sie dasselbe zu erwarten.
Dean drückte ihre Hand, und sie traten ein.
Erneut schien es, als würden sie schweben. Miri erwartete Fallgruben, unebenen Boden, aber sie spürte nichts unter ihren Füßen, als sie mit außerordentlicher Anmut und Geschwindigkeit durch die Dunkelheit flogen wie Geister durch leeren Raum. Das einzig wirklich Solide und Wirkliche war Deans Hand, mit der er die ihre umklammerte. Sie konzentrierte sich darauf, auf seine Stärke, und einen Moment lang glaubte sie, seine Gabe zu berühren. Sie spürte die Energie in ihm, eine flackernde Wärme, und fragte sich, wie es sein musste, immer nur diese Seite der Menschen zu sehen, eine Welt, reduziert auf ihre Energie.
Und diese Energie nutzen zu können, all diese Macht, so wie er es für sie getan hatte.
»Ich höre etwas«, sagte Dean und hielt an. Miri lauschte, und richtig, sie nahm das Weinen einer Frau wahr, ein heiseres Schluchzen. Ein schreckliches Geräusch, zumal es aus vollkommener Dunkelheit zu ihnen drang und noch dazu von Kettengeklirr begleitet wurde.
Miri hörte eine Bewegung hinter sich. Dean zog an ihrer Hand - sie rannten, flogen. Sie sah einen winzigen Lichtpunkt vor sich, der rasch näher kam: einen weißen Ring, wie ein Heiligenschein, der von einem großen Sandkreis umringt war. Nichts anderes existierte jenseits der Dunkelheit, aber in dem Licht sah sie Knochen, die den Boden bedeckten. Menschliche Knochen und einige, die vielleicht nicht menschlich waren, obwohl sie von ihrer Form her ähnlich wirkten.
Unter den Knochen lag ein Mann begraben. Miri erkannte ihn. Es war derselbe Körper, den sie schon während ihrer Vision in dem Labor der Universität gesehen hatte, vor einem ganzen Lebensalter, wie es ihr jetzt schien. Ein brauner, schlanker Körper, muskulös und klein. Seine Knöchel waren mit Ketten gefesselt. Hinter ihm lag eine Frau, gerade so eben außerhalb seiner Reichweite. Sie war mit gespreizten Gliedern auf einer steinernen Plattform gefesselt. Bekleidet war sie nur mit einem Lendenschurz. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher