Geliebte Rebellin
sie zu machen wünschte.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir.« Sie blieb unbeholfen stehen. »Ich habe Sie für einen Bekannten gehalten.«
Der Mann sagte kein Wort. Unter dem Rand seiner Halbmaske verzogen sich volle, sinnliche Lippen. Die Falten des dunklen Umhangs wurden aufgeschlagen, und heraus kam eine Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte und eine einzige rote Rose hielt. Stumm hielt er ihr die blutrote Blüte hin.
Charlotte wich einen Schritt zurück. Sie warf einen Blick auf die Rose und sah dann das maskierte Gesicht unter der Kapuze an. »Ich fürchte, Sie verwechseln mich mit jemandem, Sir.«
»Nein.« Die Stimme war ein raues Krächzen, dem jede Spur von Wärme fehlte. »Hier liegt keine Verwechslung vor.«
Sie erschauerte. Die abgehackten Worte riefen alte Ängste in ihr wach, und ein unbeschreibliches Grauen überfiel sie. Das ist völlig ausgeschlossen, sagte sie sich. Diese Stimme hatte sie nie zuvor gehört, denn einen derart unnatürlichen Klang hätte niemand vergessen können.
Sie bemühte sich, normal zu reagieren. Der arme Mann hatte zweifellos eine Verletzung der Stimmbänder erlitten, sagte sie sich. Vielleicht war er aber auch mit einem missgebildeten Kehlkopf geboren worden.
Sie rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich glaube nicht, dass wir einander schon einmal begegnet sind, Sir. Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich muss mich jetzt wieder in den Saal begeben. Ich werde dort von jemandem erwartet.« Sie wandte sich ab, um zu fliehen.
Nein, sie rannte nicht vor ihm davon, sagte sie sich verärgert. Sie fröstelte lediglich und konnte es kaum erwarten, wieder in die Wärme des Ballsaals zurückzukehren.
»Haben Sie bei all den Nachforschungen, die Sie über das Leben von Männern angestellt haben, die Frage des Schicksals jemals berücksichtigt?«
Charlotte stolperte und wäre beinahe gestürzt. Sie hielt sich im letzten Moment an der Terrassenmauer fest.
Nein, es konnte nicht das Ungeheuer sein. Die Stimme war nicht dieselbe.
Jene andere Stimme würde sie niemals vergessen. Sie war wie ein finsteres, schleimiges Wesen, das sich triefend durch die Nacht schlängelte. Diese Stimme hier war rau und abgehackt.
Sie drehte sich langsam zu der Gestalt um. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Phantasie Amok lief. Logik und Vernunft, aber keineswegs uralte Ängste, waren die Werkzeuge, die sie benötigte, um mit dieser Situation umgehen zu können.
»Ich bitte um Verzeihung. Was sagten Sie gerade?« fragte sie mit einer Ruhe, die sie bei weitem nicht empfand.
»Nichts von Bedeutung.« Die maskierte Gestalt hielt ihr die Rose hin. »Die ist für Sie. Nehmen Sie sie.«
»Ich will sie aber nicht haben.«
»Sie müssen diese Rose annehmen.« Die krächzende Stimme wurde leiser, bis kaum mehr als ein Flüstern blieb. »Sie ist für Sie und nur für Sie bestimmt.«
Von dieser gebrochenen Stimme ging etwas Seltsames und nahezu Unwiderstehliches aus - sie war eine faszinierende Verlockung.
»Kommen Sie schon. Nehmen Sie die Rose.«
Die Musik, die auf die Terrasse herausdrang, und die Lichter des Ballsaals wichen in weite Ferne zurück. Sie war allein hier draußen in der Nacht mit diesem Mann. »Wir kennen einander doch gar nicht. Weshalb wollen Sie mir eine Blume schenken?«
»Nehmen Sie die Rose, und Sie werden es selbst sehen.« Die Worte klangen wie Hagelkörner auf einem Grab.
Sie zögerte, doch sie wusste selbst, dass sie sich nicht einfach abwenden und fortlaufen konnte. Gefahren verschwanden nicht, wenn man ihnen den Rücken zukehrte. Sie musste wissen, was das alles zu bedeuten hatte.
Widerstrebend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Gestalt in dem wehenden schwarzen Domino wartete mit einer anscheinend unendlichen Geduld.
Als sie in Reichweite des Fremden war, öffnete sich die Faust, die in dem schwarzen Handschuh steckte, mit einer verwirrend graziösen Geste. Erst jetzt erkannte sie, dass auf einem der Dornen ein zusammengefaltetes Blatt Papier aufgespießt war.
Sie ergriff die Blume. Der Fremde verbeugte sich übertrieben höflich, wandte sich ab und verschwand in der Nacht.
Sie lief eilig zu den funkelnden Lichtern zurück und blieb direkt neben den Türen des Ballsaals stehen, um die Nachricht auseinanderzufalten. Sie las das Schreiben im Schein eines smaragdfarbenen Lampions. Gespenstische grüne Lichtsprenkel fielen auf die Worte.
Ihr Liebhaber betätigt sich nur deshalb auf dem Feld der Alchemie, weil er den Stein der Weisen zu Rachezwecken sucht.
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