Geliebte Suenderin
und legte sie schnell an. Dann flocht sie ihr Haar, steckte es hoch und bedeckte es mit der Perücke und dem Zweispitz, der ihre Verkleidung vollendete.
Sie prüfte ihre Pistole, die noch geladen war, und dann schlich sie sich leise aus dem Zimmer und den Gang hinunter, damit der schlafende Mann im anderen Schlafzimmer nicht gestört wurde.
Das Haus war still. Es mußte schon fast Tagesanbruch sein, vermutete sie, obwohl draußen noch alles stockdunkel war.
Sabrina ging leise die Treppe hinunter, dann durch die Tür unter der Treppe und den Gang entlang zum Küchentrakt. Lucien hatte versehentlich einen Lagerraum erwähnt, der massiv genug gebaut war, Will darin gefangenzuhalten. Sie betrat geräuschlos die Küche und blieb vorsichtig in der Dunkelheit stehen.
Aus einer Ecke ertönte unverkennbares Schnarchen. Sabrina sammelte sich und folgte dann dem Geräusch zu seiner Quelle.
Sie drückte den kalten Lauf der Pistole gegen den Hals des schlafenden Wärters, gab ihm einen leichten Stoß und sagte leise: »Ich würde keine plötzlichen Bewegungen machen, Kumpel, sonst blas’ ich dir ein Loch in den Schädel.«
Der inzwischen erwachte Wärter hörte mit einem würgenden Geräusch auf zu schnarchen und fiel fast von seinem Stuhl, den er ziemlich gewagt mit den Hinterbeinen gegen die Wand ge-kippt hatte. Er schaute hoch in die Dunkelheit, so weit es der Stahl an seinem Hals zuließ, und schluckte hörbar, als er die dunkle Maske und die zwei glühenden Augen vor sich sah.
»Jetzt sperr die Tür auf und laß sehen, ob unser großer Freund sich zu uns gesellen will«, befahl Sabrina leise.
Der Wächter erhob sich langsam und schloß die Tür auf. Sie schwang auf, und Sabrina gab dem Kerl einen Stoß mit der Pistole, der ihn ins Zimmer beförderte, dicht gefolgt von ihr.
»Wer ist es?« fragte Will kriegerisch.
»Wer denn wohl? Bonnie Charlie«, erwiderte Sabrina frech.
Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen, als sie seine rauhe Stimme hörte.
»Charlie!« rief Will freudig erregt. »Seid Ihr es wirklich?«
»In Person, kein Geist, der dich verfolgt, Will«, erwiderte sie und zog den Dolch, als sie Wills verschnürte Gestalt in der Dunkelheit ausmachte. Die Pistole drückte sie weiterhin gegen den Rücken des Dieners.
Wie der Blitz schnitt sie seine Fesseln durch, und nachdem Will zuerst den Wächter mit einem achtlosen Schwinger zu Boden befördert hatte, streckte er sich.
»Das wollte ich schon tun, seit ich das grinsende Gesicht dieses Idioten zum ersten Mal gesehen habe«, verkündete er.
»Schnell, der Morgen graut schon fast, und wir müssen weit weg von hier sein, Will, bevor der Haushalt erwacht«, warnte Sabrina nervös.
»Jawohl, wir sind schon unterwegs«, stimmte Will bereitwillig zu, und seine vertraute Stimme war Balsam für Sabrinas strapa-zierte Nerven.
Hüte dich vor dem Zorn eines geduldigen Mannes.
John Dryden
KAPITEL 6
»O Gott, Sabrina, ich hätte nie gedacht, daß ich dich noch einmal lebend sehe. Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, rief Mary.
Ihre Augen waren vom vielen Weinen ganz rot und verschwollen.
Sie hatte gerade in der Halle Blumen arrangiert, als Sabrina hereingestolpert war, mit weißem, verhärmtem Gesicht, totenbleich im Kontrast zu ihrem schwarzen Rock. Sie brachte sie schnell nach oben, außer Sichtweite der Dienerschaft. Mit gro-
ßem Entsetzen hatte sie die heilende Wunde auf Sabrinas Schulter gesehen und von dem Duell gehört.
Aber noch etwas stimmte nicht. Es war nicht die Angst vor dem Tod, die den Schmerz in Sabrinas Blick verursacht hatte. Ihr Gesicht war schmal geworden, und ihre Backenknochen waren spitz. Sabrinas Antworten waren nicht keck wie sonst, und ihr Gang war nicht mehr stolz und aufrecht. Natürlich war sie von ihren Qualen noch müde und erschöpft - aber sie hatte sich auch irgendwie verändert. Arme kleine Rina, was war nur mit ihr geschehen, sorgte sich Mary im stillen, als sie den zitternden Mund ihrer Schwester sah.
»Hast du denn mein Schicksal nicht in deinen Visionen gesehen, Mary? Du hast Gefahr gesehen. Aber du hast gesagt, es wäre alles zum besten, erinnerst du dich?« sagte Sabrina leise. »Aber du hast dich geirrt . . . so sehr geirrt.«
»Ich dachte mir, daß ich mich geirrt hatte, als du nicht zurückgekommen bist. John hat nicht gewußt, wo du mit Will hingerit-ten bist. Wir waren in Panik, aber was konnten wir tun?« Mary hob hilflos die Hände. »Wenn ich mir vorstelle, daß dieser böse Mann dich hätte
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