Geliebter, betrogener Mann
fragte Dr. Wehrmann, nahm Petermann das Glas Steinhäger aus der Hand und trank es leer.
»Wie immer. Wir warten. Sie kommen schon alle drei Minuten, die Wehen. Da –«
Im Nebenzimmer quoll ein dunkles Stöhnen auf. Petermann goß sich neu ein und trank das Glas schnell selbst leer, ehe Dr. Wehrmann zugreifen konnte.
»Na, dann woll'n wir mal.« Dr. Wehrmann warf den Mantel ab, nahm seine Arzttasche und betrat das Schlafzimmer. Anna Petermann lag schweißbedeckt auf ihrem Gummituch, vor ihr die Hebamme, bereit zu helfen. »Wie geht's denn, Anna?« sagte Wehrmann und wusch sich die Hände im heißen Wasser. Dann tauchte er sie in eine bereitstehende Lysollösung und kam an das Bett. »Beim sechsten hat man Übung, was? Und mach mir nicht wieder so'n Quatsch wie bei Nummer vier und fünf. Draußen liegt tiefer Schnee, und ehe der Krankenwagen kommt … also, Mädchen, zeig, was du kannst.«
Anna Petermann lächelte unter Seufzen und unterdrückten Schreien. Sie hatte ein Taschentuch zwischen den Fingern und riß daran. Das war der Ton Dr. Wehrmanns, gegen den es keine Widerrede gab. Und er gab Mut und Kraft und unbedingtes Vertrauen.
Dr. Wehrmann hob den Kopf nach der Untersuchung und nickte Anna zu. »Gleich ist's geschafft, Mädchen. So ist's im Leben – jeden Spaß muß man bezahlen.«
»Sagen Sie das meinem Alten«, stöhnte Anna Petermann. Aber sie versuchte wieder das im Zittern untergehende Lächeln. »Der sitzt nebenan und säuft.«
»Genau. Aber der kommt auch noch dran, keine Angst. Schrei mal kräftig –«
Es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Eine gewaltige Wehe durchzuckte den schweißnassen Körper. Der Kopf des Kindes trat aus, und Anna schrie, grell, sich überschlagend. Gotthelf Petermann stürzte in das Zimmer, bleich, mit hohlen Augen, und er sah nicht nur das geborene Kind, sondern auch den Blutschwall, der aus Anna hervorbrach und das Bett überschwemmte.
»Das Blut …«, stammelte er. »Doktor, da ist es wieder … das Blut.«
»Raus!« schrie Dr. Wehrmann. Während die Hebamme das Kind wegtrug, bemühte sich der Arzt um die Loslösung der Plazenta. Ein heißer Schreck durchfuhr ihn, als er unter den tastenden Fingern die Wunde fühlte, die im Uterusgrund aufgerissen war. Wie beim vorangegangenen Kind, dachte er. Die gleiche Sache. Es ist, als ob das Gewebe morsch ist, beim Loslösen der Plazenta entsteht eine Wunde, und die Blutung ist nicht zu stillen. Schon beim fünften Kind war Anna Petermann kurz vor dem Verbluten gerettet worden. Jetzt ging es wieder um Minuten. Und draußen lag tiefer Schnee, klirrte der Frost und waren die Straßen zur Stadt vereist und glatt wie eine Schlittschuhbahn.
»Krankenwagen!« schrie Dr. Wehrmann. »Sofort kommen mit Blutplasma und Kochsalzlösungen!«
Petermann kniete neben dem Bett. Er hatte Annas Schulter umklammert, seinen Kopf an ihrer Brust liegend, und weinte.
»Anna!« stammelte er. »Anna … ich schwöre dir, ich schwöre dir … es war das letzte Mal … Anna, hörst du mich? Sieh mich doch an … Anna!«
»Rufen Sie an, Sie Idiot!« schrie Wehrmann. »Man müßte fliegen können.«
Taumelnd rannte Petermann aus dem Schlafzimmer zum Telefon. Die Hebamme reichte Dr. Wehrmann eine Spritze mit einem blutstillenden Mittel. Sie wußten beide, daß es nur ein Aufschub war, daß die Rettung nur durch eine dauernde Bluttransfusion kommen konnte bei gleichzeitiger Eröffnung der Unterbauchhöhle und einer Naht der Wunde.
»Was ist es?« fragte Wehrmann nach der Injektion.
»Ein Mädchen.«
»Ein Mädchen«, sagte Anna leise. »Nun haben wir von jedem drei … ich bin so herrlich müde, Doktor … alles ist so weit weg.«
Dr. Wehrmann sprang auf, wusch sich die Hände und zog 10 ccm Clauden in die Spritze, nachdem er die Claudenampulle kurz angewärmt hatte. Dann injizierte er langsam in die Vene. Petermann kam wieder ins Zimmer, schwankend und leichenblaß. Er hielt sich am Kleiderschrank fest und starrte auf seine Frau. Wächsern lag sie in den Kissen, mit geschlossenen, eingesunkenen Augen und farblosen, schmalen Lippen. Ihr fröhlicher, immer lachender, runder Kopf war klein wie ein Kinderkopf … es war, als schrumpfe er zusammen.
»Anna«, stammelte Petermann. »Anna … das darfst du doch nicht … das darfst du nicht … Anna …«
»Raus!« brüllte Wehrmann.
»Doktor, ich häng mich auf, wenn Anna …« Petermann drückte das Gesicht gegen die Wand und heulte. »Ich bring mich um! Warum mußte sie das Kind noch kriegen
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