Geliebter Feind
geschossen war, dass sie etwas Dummes anstellen könnte, hatte er einfach zu ihr fahren müssen, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung mit ihr war. Im Moment war sie jedoch alles andere als in Ordnung, auch wenn sie es behauptete. Sie schluchzte jämmerlich an seiner Brust.
Mit der einen Hand strich er ihr die feuchten Locken aus dem Gesicht, mit der anderen angelte er nach seinem Handy und wählte eine Nummer.
„Was machst du?“
„Du kommst mit zu mir. Ich lasse dich in diesem Zustand nicht allein.“
„Ich bin es gewohnt, allein zu sein.“
„Ich auch. Das heißt nicht, dass es uns gefällt.“ Nikolai führ sie zur Wohnung hinaus und zum Lift.
„Ich sehe doch fürchterlich aus. Und ich werde auch nicht mit dir schlafen.“
„Du bist so herzerfrischend offen“, meinte er sardonisch. „Warte wenigstens, bis du gefragt wirst.“
Fast hätte sie gelacht, doch dann musste sie wieder an Jeffrey denken, und es kam nur ein Schluchzen heraus. „Ich war immer nur zweite Wahl für ihn“, flüsterte sie erstickt. „Seine Schwester hat mir gesagt, dass er mich nur genommen hat, weil die Frau, die er liebte, ihren Mann nicht verlassen wollte. Alles, was ich über ihn gedacht habe, war falsch. Immer hat er sich als so moralisch hingestellt, und dann schläft er mit einer verheirateten Frau, während wir schon verlobt sind.“
„Hör auf, dich damit zu quälen. Sowohl seine Affäre wie auch deine Ehe sind lange vorbei.“
„Aber ich war so überzeugt, dass er mich liebt.“ Ihr wurde bewusst, wie sehr ihr Selbstwertgefühl damit gewachsen war. „Es war mir so wichtig. In der Schule war ich immer nur die Bohnenstange. Keiner von den Jungs wollte etwas mit mir zu tun haben …“
„Das würden sie bitter bereuen, wenn sie dich jetzt sehen könnten“, meinte Nikolai belustigt und zog sie schützend an seine Seite, sobald sie nach draußen kamen. Mit einer knappen Geste des Kopfes wies er seine Leibwächter an, die auf der Straße wartenden Paparazzi zu verscheuchen.
„Du warst bestimmt beliebt in der Schule“, meinte sie kleinlaut, als sie sicher in der Limousine saßen.
Nikolai schenkte eisgekühlten Wodka aus der kleinen Bar in zwei Gläser. „Nein. Mein Vater war ein skrupelloser Geldverleiher und bei den meisten Leuten verhasst. Mein Großvater hat sich für seinen Sohn geschämt, und ich mich für den Vater.“ Warum erzählte er ihr das? Zudem etwas, das er sich bisher selbst nicht eingestanden hatte. Während er aufgewachsen war, hatte dieser nichtswürdige kleine Gauner von einem Vater ihm ein chronisches Schamgefühl beschert.
Abbey stürzte den Wodka in einem Zug hinunter und musste prompt husten. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen.
Nikolai klopfte ihr auf den Rücken. „Pluspunkte fürs Herunterkippen, aber du hast nicht einmal den Trinkspruch abgewartet.“
Abbey dachte noch immer über seine Worte nach. „Wieso standest du deinem Großvater näher?“
„Ich lebte bei ihm, bis er starb. Da war ich neun. Mein Vater wollte nichts mit mir zu tun haben. Er war bereits verheiratet, mit drei Kindern, als er meine Mutter schwängerte. Mein Großvater hat mich zu sich geholt, gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Vaters.“
„Meine Mutter starb einen Tag nach meiner Geburt.“ Abbey akzeptierte anstandslos, dass Nikolai ihr nachschenkte, und hob das Glas. „Auf ein besseres Verständnis zwischen uns! Mein Vater hatte nie etwas für mich übrig. Ich war nur Ballast für ihn. Mein Bruder war der Wichtige, schließlich war er ja ein Junge …“
„Hast du deswegen einen so viel älteren Mann geheiratet?“
„Nein, ich hatte mich wirklich in Jeffrey verliebt.“
„Aber darüber wirst du nun hinwegkommen müssen“, bemerkte er nüchtern.
Abbey erlaubte es Nikolai, ihr aus der Limousine zu helfen. Die zwei Gläser Wodka waren ihr direkt zu Kopf gestiegen, und der kühle Abendwind ließ sie frösteln. Nikolai legte ihr sein Jackett über die Schultern. Seine Ritterlichkeit war eine angenehme Überraschung für sie, und sie bedankte sich lächelnd.
Eigentlich wusste sie, dass sie jetzt nicht mit ihm zusammen sein sollte. Wenn es eine Situation gab, um den Spruch „vom Regen in die Traufe“ konkreter zu beschreiben, dann war es diese hier. Dennoch war sie verdutzt, dass er sie in seiner Nähe haben wollte, trotzdem sie in dieser bedrückten Stimmung war. Und es war ihr auch lieber, jetzt nicht allein zu sein.
„Ich würde mir gern
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