Geliebter Normanne
verzweifelt musste sie gewesen sein, sich zu opfern, um die anderen zu retten.
Etwas ruhiger sagte er zu Henri: »Ich muss wohl zugeben, dass mein Verhalten in der letzten Zeit Anlass gegeben hat, Euch glauben zu lassen, ich würde meine Gefühle über das Wohlergehen meiner Leute stellen. Wäre ich an Eurer Stelle gewesen, so hätte ich wohl ähnliche Schlussfolgerungen gezogen. Dass sich die Männer nach den entbehrungsreichen Tagen auf Wein und Bier gestürzt haben, darf ich ebenfalls nicht verurteilen. Aber jetzt müssen wir überlegen, was wir tun können, um Lady Hayla zu befreien.«
Henri atmete erleichtert auf. Er fürchtete sich nicht vor dem Zorn Bosgards, dieser führte jedoch zu keinem Ziel. Ruhig und, soweit es möglich war, gelassen mussten sie jetzt gemeinsam überlegen, was zu tun war. Wie konnten sie ohne Pferde so schnell wie möglich nach London gelangen, um Lady Hayla vor dem Schlimmsten zu bewahren?
»Lasst mich allein, Henri, und ruft alle Männer in der Halle zusammen.« Bosgards Stimme war leise und beherrscht. »Wir werden eine Lösung finden.«
Nachdem Henri gegangen war, trat Bosgard ans Fenster und starrte auf die Landschaft, die immer noch in gleißendem Sonnenlicht lag. In seinem Herzen herrschten jedoch tiefste Finsternis und Verzweiflung. Zuerst war er auf Hayla wütend gewesen, dass sie ihn derart hereingelegt und ihn betäubt hatte, doch er konnte ihr nicht ernsthaft böse sein. Ihre selbstlose Tat hatte ihrer aller Leben gerettet. Bosgard erging sich jedoch nicht in Illusionen – Hayla würde von König William keine Gnade zu erwarten haben, sofern sie überhaupt lebend bis nach London kam. Er fürchtete, Ralph Clemency, der zu den Männern von de Mantes gehörte, könnte Hayla während der Reise etwas antun. Allein aus dem Grund, um sich an ihm, Bosgard, zu rächen. Auch war er realistisch genug zu wissen, dass auch Constance Aubrey und dieser angelsächsische Ritter Mandric Hayla nicht ungeschoren davonkommen lassen würden. Yven de Mantes mochte vielleicht ein aufrechter Mann sein, gegen einen feigen Anschlag auf Hayla war selbst er machtlos. Ohne Pferde waren Bosgard und seinen Männern allerdings die Hände gebunden. Sogar wenn er sofort mit einem Trupp aufbrach – den Vorsprung von de Mantes würde er niemals einholen. Bosgard schätzte, sie waren jetzt ungefähr dreißig Meilen entfernt – ein Mann zu Fuß konnte jedoch, selbst wenn er gesund und kräftig war, höchstens zehn Meilen am Tag zurücklegen. Seine Männer waren dazu von dem langen Hungern geschwächt und einer solchen Strapaze noch nicht gewachsen.
Bosgard schlug die Hände vors Gesicht. In seinem Leben hatte er bereits viel erlebt, auch hatte er mehrmals gedacht, die Liebe Haylas verloren zu haben, doch jetzt war er verzweifelt. Zwar lebte er dank Haylas selbstlosem Plan, aber was war das Leben ohne sie? Ohne die Weichheit ihrer Haut und den Duft ihres Haares? Die Vorstellung, nie wieder ihre glockenhelle Stimme zu hören und niemals wieder in ihre veilchenblauen Augen zu schauen, verursachte ihm körperliche Pein.
»Reiß dich zusammen, Bosgard de Briscaut«, rief er sich laut zur Ordnung. Selbstmitleid brachte ihn jetzt nicht weiter. Was waren seine Leiden schon gegen die, die Hayla bevorstanden? Wenn sie die Reise nach London überlebte, dann erwartete sie spätestens dort der sichere Tod. Vielleicht war der König gnädig und gewährte ihr eine schnelle, schmerzlose Hinrichtung. Bosgard kannte jedoch die Gesetze, die auf Verrat standen – und Verräter fanden vor des Königs Augen keine Gnade. Die einzige Möglichkeit, die er hatte, war, darauf zu vertrauen, dass die Beweise des Ritters Mandric sich als haltlos herausstellen würden. Vielleicht hatte der Mann alle irregeführt? Der König würde niemanden zum Tod verurteilen, wenn er von dessen Schuld nicht überzeugt war.
»Was wir brauchen, ist Zeit«, sagte Bosgard später in der Halle, in der sich nicht nur seine Männer, sondern alle Bewohner von Penderroc Castle versammelt hatten und ihn erwartungsvoll anblickten. Bosgard rührte das Vertrauen der Menschen in ihn, und er wollte alles tun, sie nicht zu enttäuschen. »Im Juli geht der König gerne auf die Jagd, es könnte also sein, dass es einige Zeit dauert, bis es zu der Verhandlung kommt.« Seine Sorge, Hayla könne während der Reise von Ralph Clemency ermordet werden, schob er zur Seite und sprach nicht darüber. Er wollte die Leute nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen.
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