Geliebter Schuft
nach ihrem Geschmack viel zu schwer war, ließ sich aber anstandshalber ein kleines Stück geben. Unbeobachtet von ihrer Gastgeberin, konnte sie es noch immer auf Chastitys Teller legen.
Die Ladenglocke bimmelte, und Mrs. Beedle zog den Vorhang beiseite. »Ach, das ist Mr. Holbrook, der seine Zeitung und seine Zigaretten holt.« Sie eilte hinaus und begrüßte den Kunden freundlich.
Chastity biss kräftig in ihr Kuchenstück und leckte sich die Finger ab. »Was für eine Sünde.«
»Schrecklich«, sagte Constance und goss Tee ein. »Ich weiß gar nicht, wie du das essen kannst.«
»Das ist ein besonders köstlicher Korinthenkuchen«, erklärte Prudence und leckte sich ebenfalls die Finger ab.
»Du kannst meinen haben.« Constance legte ihr Stück auf Chastitys Teller und sah wieder auf die Uhr. »Fast elf. Ich frage mich, ob er rechtzeitig kommt.«
Wieder bimmelte die Türglocke. Alle blickten zum Vorhang. Eine leise raunende Männerstimme drang aus dem Laden an ihre Ohren. »Er ist es.« Chastity wischte sich die Finger an der Serviette ab, trank rasch einen Schluck Tee und stand auf, wobei sie ihren dichten schwarzen Schleier zurecht zog . »Kann man mein Gesicht erkennen?«
»Wohl kaum.«
»Ich versuche es mit einem französischen Akzent.«
Mrs. Beedle kam aus dem Ladenraum herbeigeeilt. »Ein Gentleman möchte Sie sprechen, Miss.«
»Danke.« Chastity nickte ihren Schwestern zu, nahm Haltung an und ging hinaus in den Laden. Ihre Schwestern huschten gemeinsam vom Tisch zum Vorhang. Constance schob ihn unmerklich ein Stück beiseite, damit sie den Teil des Ladens, in dem die Kekspackungen lagerten, einsehen konnte.
»Sie suchen mich, M'sieur.« Chastitys übertriebener französischer Akzent brachte die kichernden Schwestern kurz durcheinander. Sie klingt wie eine Kammerzofe in einem französischen Lustspiel, dachte Constance.
»Sie sind die Kontaktperson von The Mayfair Lady ? « Der Mann trug einen korrekten Geschäftsanzug, dazu einen Zylinder und einen Stock mit silbernem Knauf. Sein Haar war grau und am Hinterkopf schütter, am Ende seiner langen, schmalen Nase thronte ein Kneifer. Ein adrettes Bärtchen zierte die Oberlippe. Ein unauffälliger und ehrbar aussehender Mann.
»Ich bin ihre Vertreterin«, sagte Chastity.
Er streifte die Handschuhe ab und reichte ihr mit einer Verbeugung seine Hand, die sie schüttelte. Dann deutete sie auf die Ecke des Raumes. »Wir wollen uns dort drüben unterhalten, wenn es recht ist. Dort sind wir ungestört.«
Er blickte um sich. »Ich hatte mir ein Büro vorgestellt.«
»Wie haben auch Gründe, anonym zu bleiben, M'sieur.«
Hinter dem Vorhang tauschten die Schwestern beifällige Blicke.
»Können Sie mir denn helfen?«
»Das weiß ich erst, wenn Sie einige Fragen beantwortet haben.« Nun traten sie ins Blickfeld der Beobachterinnen hinter dem Vorhang. »Sie verstehen sicher, dass die Damen, die an uns herantreten, einwandfreie Referenzen verlangen.«
»Ja ... ja ... natürlich. Etwas anderes habe ich nicht erwartet«, sagte er hastig. »Bitte, missverstehen Sie mich nicht, Madam, ich wollte keine Vermutungen äußern ...«
Chastity hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Schon gut, M'sieur. Wir verstehen einander. Jetzt zu Ihren Lebensumständen sowie zu den Eigenschaften, die Sie sich von Ihrer Frau erwarten. Sie leben gern auf dem Land?«
»Ja ... ja, ich besitze ein kleines Gut in Lincolnshire. Kein großartiges Herrenhaus, aber sehr behaglich, und ich verfüge über ein ansehnliches Vermögen.« Seine Worte schienen sich zu überstürzen, so eilig hatte er es. Constance und Prudence war der Grund klar. Chastity übte sehr oft diese Wirkung auf Menschen aus. Ihre Haltung und sanfte Stimme ließen auch unter dieser Verkleidung Mitgefühl und ein geneigtes Ohr vermuten.
»Und Sie suchen eine Frau.« Chastity nickte mit ihrem verschleierten Haupt. »Zweifellos eine mit beschaulichen Neigungen.«
»In unserem Dorf gibt es wenig Abwechslung, Madam. Natürlich würde meine« - er hüstelte hinter vorgehaltener Hand - »meine Frau den Vikar und seine Frau sowie den Gutsherrn samt Frau aus dem Nachbarort empfangen, zu einer Kartenpartie oder einem musikalischen Abend. Im Allgemeinen führen wir aber ein ruhiges Leben.«
»Und wenn ich richtig verstanden habe, erwarten Sie weder Schönheit noch Vermögen?« Chastity sagte dies etwas erstaunt.
»Ich brauche eine Gefährtin, Madam. Nach allem, was ich gelesen habe, macht Schönheit noch keine gute
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