Geliebter Tyrann
Luftzug drohte das Feuer zu löschen. »Das ist der kälteste März, den ich bisher erlebt habe«, sagte Janie und hielt ihre Hände über das Feuer. »Ich habe das Gefühl, es wird nie Frühling werden.«
»Das Gefühl habe ich auch«, flüsterte Nicole. Sie ballte die Hand zur Faust und schlug damit kräftig in den quellenden Teig. Frühling, dachte sie. Dann wollten sie und Clay zusammen nach Westen ziehen. Janie sagte, so einen kalten und feuchten Winter habe es noch nie in Virginia gegeben. Weil es so viel schneite, hatten sie alle im Haus bleiben müssen - vier Erwachsene und zwei Kinder waren auf kleinstem Raum zusammengedrängt. In der Zeit, seit Gerard und Adele ins Haus gekommen waren, hatte Nicole Clay nur ein einzigesmal gesehen. Doch selbst da hatte er zerstreut gewirkt, als belaste ihn etwas.
»Guten Morgen«, sagte Gerard, als er die Treppe herunterkam. Gleich nach seiner Ankunft hatte man die Schlafplätze anders eingeteilt. Er schlief nun mit Adele oben im Bett der Zwillinge, während die Kinder auf Matratzen schliefen, die im Erdgeschoß jeden Abend hergerichtet wurden. Janie und Nicole schliefen im Obergeschoß, und ein Vorhang trennte sie von dem Ehepaar.
»Morgen!« schnaubte Janie. »Es ist fast Mittag.«
Gerard ignorierte sie wie üblich. Die beiden waren sich nicht grün. »Nicole«, sagte Gerard in bittendem Ton, »glaubt Ihr, Ihr könntet etwas gegen den Lärm am frühen Morgen unternehmen?«
Sie war zu erschöpft vom Kochen, Putzen und der Sorge um so viele Leute, daß sie ihm keine Antwort geben konnte.
»Auch sind die Manschetten an meiner lavendelfarbenen Jacke schmutzig geworden, und ich hoffe doch, Ihr könnt sie reinigen«, fuhr er fort, streckte die Arme aus und betrachtete angelegentlich die Kleider, die er trug. Sein blaues Jackett reichte ihm bis zu den Knien, saß stramm in der Taille, wo es mit einer schweren, schwarzen geflochtenen Schnur zusammengehalten wurde, und fiel dann glockig über seine schlanken Hüften, die von einer Kniehose bedeckt waren. Seine Seidenstrümpfe steckten in dünnen Lacklederpumps. Unter der Jacke trug er eine Weste aus gelbem Satin, die mit hellblauen Sternen bestickt war, und das weiße Seidenhemd wurde vorn von einer grünen Krawatte zusammengehalten. Gerard war schockiert gewesen, als er entdeckte, daß Nicole nicht wußte, was eine grüne Krawatte bedeutete. »Sie ist das Zeichen, daß man zum französischen Adel gehört«, hatte er erklärt, »wenigstens in kleinen Dingen können wir uns von den gewöhnlichen Leuten unterscheiden.«
Das Klopfen an der Decke ließ Nicole von ihrem Teig aufsehen. Adele war früher als gewöhnlich aufgewacht.
»Ich gehe zu ihr hinauf«, sagte Janie.
Nicole lächelte. »Du weißt, daß sie sich noch nicht an dich gewöhnt hat.«
»Wird sie wieder zu schreien anfangen?« fragte Alex ängstlich.
»Können wir nach draußen gehen?« fragte Mandy.
»Nein und nein«, antwortete Nicole. »Ihr könnt später draußen spielen.« Sie nahm ein kleines Tablett, goß süßen Apfelwein in ein Glas und trug es zu ihrer Mutter hinauf.
»Guten Morgen, meine Liebe«, sagte Adele. »Du siehst aber heute elend aus. Fühlst du dich unpäßlich?« Adele redete sie, me gewöhnlich, in französischer Sprache an. Obwohl Nicole anfangs versucht hatte, englisch mit ihr zu reden, eine Sprache, die sie sehr gut beherrschte, hatte ihre Mutter sich geweigert, ihr in dieser Sprache zu antworten.
»Ich bin nur ein bißchen müde - das ist alles.«
Adele musterte sie augenzwinkernd. »Daran ist wohl dieser deutsche Graf schuld. Er hat gestern zu lange mit dir getanzt, nicht wahr?«
Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihrer Mutter etwas zu erklären versuchte, also nickte Nicole nur zustimmend. Sobald ihre Mutter in die Wirklichkeit zurückfand- wenn auch nur für Minuten - begann sie zu schreien, und man mußte ihr Drogen einflößen, damit sie damit wieder aufhörte. Zuweilen schwankte sie zwischen Hysterie und einer träumerischen Ruhe. In den Ruhephasen sprach sie von Mord und Tod, von ihrer Zeit im Gefängnis, von ihren Freunden, die aus der Tür gingen und nie mehr zurückkamen. Nicole litt am meisten unter diesen ruhigen Phasen, denn sie konnte sich nur zu gut an die Leute erinnern, von deren Hinrichtung ihr Adele erzählte. Es waren liebenswürdige, lebenlustige Frauen gewesen, die in ihrem Leben nichts anderes als Luxus und Bequemlichkeit gekannt hatten. Wenn sie daran dachte, daß man all diesen Frauen die Köpfe
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