Geliebter Tyrann
abgeschlagen hatte, konnte sie kaum ihre Tränen zurückhalten.
Eine Stimme aus dem Erdgeschoß schreckte sie aus ihren Erinnerungen. Wesley! dachte sie in einem Anflug von Freude. Ihre Mutter lehnte sich wieder in die Kissen zurück und schloß die Augen. Adele verließ nur selten das Bett; doch zuweilen verlangte sie, daß man ihr stundenlang zuhörte.
Ein bißchen schuldbewußt wie immer verließ Nicole ihre Mutter und ging hinunter, um ihren Gast zu begrüßen. Sie hatte Wes seit diesem schrecklichen Weihnachtsessen nicht mehr gesehen, und das lag schon mehr als drei Monate zurück.
Er war in ein Gespräch mit Janie vertieft, als Nicole die Treppe herunterkam. Offenbar gab Janie ihm Auskunft, warum Gerard und Adele jetzt ebenfalls in diesem Hause wohnten. »Wesley«, sagte sie, »es tut so gut, dich wieder einmal zu sehen.«
Er drehte sich mit einem breiten Lächeln um, das jedoch sofort wieder verflog. »Gütiger Gott, Nicole! Du siehst schrecklich aus! Du siehst aus, als hättest du zwanzig Pfund abgenommen und seit einem Jahr nicht mehr geschlafen.«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf«, sagte Janie gereizt.
Als Wes von Nicole auf Janie zurücksah, bemerkte er, daß beide Frauen nicht gut aussahen, die Rosen auf Janies Wangen waren verblichen. Hinter den Frauen stand ein kleiner blonder Mann und blickte mit einem verächtlichem Kräuseln seiner dicken Lippen auf die Zwillinge hinunter.
»Alex und Mandy, wie wäre es, wenn ihr eure Winterstiefel und dicken Mäntel anzöget? Und Nicole, ich möchte, daß du und Janie euch ebenfalls warm ankleidet. Wir wollen nämlich Spazierengehen.«
»Wes«, begann Nicole, »das kann ich nicht. Ich habe einen Teig angesetzt, und meine Mutter...« Sie hielt inne. »Ja, ich würde ganz gern mit dir Spazierengehen.« Sie lief wieder die Treppe hinauf, um ihren neuen Mantel zu holen, den Clay für sie hatte nähen lassen, weil sie auf Backes’ Party gegen ihn gewettet und gewonnen hatte.
Der weinrote Kamelott, eine Mischung aus Mohair und Seide, zeigte sein schimmerndes, dichtes Gewebe, als sie das schwere Cape über die Schultern warf und am Hals befestigte. Die Kapuze, die ihr über den Rücken hinabhing, zeigte das dichte schwarze Fell von Nerzen, mit denen das ganze Cape gefüttert war.
Draußen war die Luft sauber und gut, noch schneite es, und die Flocken landeten häufig auf ihren Wimpern. Der dunkle Nerz rahmte ihr Gesicht, als sie die Kapuze über die Haare zog.
»Was geht hier vor sich?« fragte Wes, sobald Nicole im Freien war. Er zog sie zur Seite, beobachtete Janie, die Zwillinge und Isaac, die sich mit Schneebällen bewarfen. »Ich dachte, alles wäre in Ordnung zwischen dir und Clay nach der Party bei den Backes und nachdem wir dich von der Insel zurückholten.«
»Es wird schon in Ordnung kommen«, sagte sie zuversichtlich. »Das dauert nur seine Zeit.«
»Zweifellos steckt Bianca wieder dahinter.«
»Bitte, ich möchte lieber nicht darüber reden. Wie ist es dir und Travis inzwischen ergangen?«
»Wir gehen uns auf die Nerven. Die Einsamkeit ist daran schuld. Travis wird im Frühling nach England fahren und sich nach einer Frau umsehen.«
»Nach England? Aber es gibt doch mehrere hübsche junge Frauen in eurer Nachbarschaft.«
Wesley zuckte mit den Schultern. »Das habe ich ihm auch gesagt; aber ich fürchte, du hast ihn verwöhnt. Ich warte lieber auf dich. Wenn Clay nicht bald zur Besinnung kommt, werde ich versuchen, dich ihm wegzunehmen.«
»Sag das bitte nicht«, flüsterte sie. »Vielleicht bin ich abergläubisch.«
»Nicole, hier stimmt doch etwas nicht, nicht wahr?«
Tränen traten ihr in die Augen. »Ich bin nur so müde und... ich habe Clay seit Wochen nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, was er macht. Ich habe diese schreckliche Angst, daß er sich in Bianca verliebt hat und es mir nicht sagen will.«
Da legte Wes seine Arme um sie und zog sie an sich. »Du hast zuviel zu tun, zuviel Verantwortung. Aber die Angst, daß Clay dich nicht liebt, sollte dich nicht bedrücken. Wie kommst du auf den Gedanken, daß er auch nur einen Funken Gefühl für so eine Megäre wie Bianca haben könne? Wenn sie in seinem Haus lebt und du hier, dann gibt es dafür verdammt gute Gründe.« Er schwieg einen Moment. »Deine Sicherheit vermutlich, da ich mir keinen anderen Grund denken kann, der Clay von dir fernhalten könnte.«
Mit einem leisen Schluchzen nickte sie an seiner Schulter. »Hat er dir das erzählt?«
»Etwas, aber nicht viel. Komm, wir
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