Geliebter Tyrann
Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, daß sie schlecht bewirtschaftet war. Die Saat des letzten Jahres hatte man auf den Feldern verrotten lassen. Es tat weh, das mitansehen zu müssen; aber sie war machtlos, konnte nichts dagegen unternehmen. Isaac hatte sie laufend davon unterrichtet, was auf dem anderen Flußufer vor sich ging. Die meisten bezahlten Angestellten hatten schon vor Monaten die Plantage verlassen. Und fast alle Sklaven waren verkauft worden; nur noch eine Handvoll Leute, die Frondienste leisten mußten, waren zurückgeblieben.
In diesem Frühjahr waren ein paar Felder in der Flußniederung bestellt worden; doch das war alles. Die Äcker auf höherem Boden lagen brach, nur verrottende Stengel waren darauf zu sehen. Isaac sagte, Clay kümmere das nicht, und Bianca verkaufte alles, dessen sie habhaft werden konnte, um ihre Kleiderrechnungen und die ständigen Umbauten am Haus bezahlen zu können. Isaac sagte, die einzige Person auf der Plantage, die ständig zu tun habe, wäre die Köchin.
»Nicht viel zu sehen dort drüben, nicht wahr?«
Nicole drehte sich erschrocken um und fand Isaac an ihrer Seite. Er blickte hinüber zum anderen Flußufer. In den Monaten seit der Entführung waren sie sich beide sehr nahe gekommen. Die Tragödie, die sie gemeinsam gemeistert hatten, hatte sie zu Verbündeten gemacht. Die Leute, die für sie arbeiteten, hatten ihrer Empfindung nach immer zu Clay gehört, was bis zu einem gewissen Grad sogar für Janie galt. Nur zu Isaac hatte sie diese besondere Beziehung. Und Isaac blickte Nicole oft so an, als wäre er sogar bereit, für sie zu sterben.
»Er könnte es schaffen, wenn die Felder, die er bestellt hat, ihm eine gute Ernte bringen; und bis jetzt ist das Wetter ideal gewesen«, sagte sie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Clay die Kraft aufbringt, auch nur seinen Tabak zu ernten, geschweige denn ihn auf den Markt zu bringen.«
»Das ist absurd. Keiner arbeitet härter als Clayton Armstrong.«
»Arbeitete«, verbesserte Isaac sie. »Ich weiß, wie tüchtig er einmal gewesen ist; doch nun besteht seine ganze Arbeit darin, eine Flasche an seinen Mund zu heben. Und was hätte er auch davon, wenn er arbeiten würde? Seine Frau hat mehr Geld ausgegeben, als ihm vier Plantagen dieser Größe einbringen könnten. Jedesmal, wenn ich die Zwillinge hinüberbringe, steht ein Büttel in der Halle, der von Clay das Geld für unbezahlte Rechnungen eintreiben möchte. Wenn er diesmal die Früchte auf den Feldern verrotten läßt, verliert er alles. Der Richter wird die Plantage zwangsversteigern lassen.«
Nicole wandte sich ab. Sie wollte nichts mehr davon hören. »Ich habe noch ein paar unerledigte Geschäftsbriefe zu bearbeiten, glaube ich. Haben die Morrisons noch die Gerste nachgeliefert, um die du gebeten hast?«
»Heute morgen«, sagte er und folgte ihr zur Mühle. Er holte tief Luft und wünschte sich wieder, inzwischen zum tausendsten Male, daß sie ein wenig ausruhte, wenn schon nicht ihretwegen, dann wenigstens ihm zuliebe. Er wünschte, Wesley käme auf Besuch; doch Travis war nach England gefahren, und Wes hatte nun auf seiner eigenen Plantage zu tun. Niemand sonst konnte Nicole bewegen, wenigstens ein paar Minuten die Arbeit zu unterbrechen.
Gerard lehnte an einem Baum und beobachtete, wie Isaac Nicole zur Mühle zurückbegleitete. Er hatte sich oft gefragt, was zwischen diesen beiden wohl vor sich gehen mochte. Sie verbrachten viele Stunden miteinander. Im vergangenen Jahr hatte Gerard Hunderte von Leuten kennengelernt, und die meisten hatten ihm bereitwillig alles erzählt, was er wissen wollte. Er hatte von ihnen erfahren, daß Nicole eine leidenschaftliche Frau war. Er hatte von hundert Leuten bestätigt bekommen, wie sie sich auf der Party bei den Backes benommen hatte. Sie hatte sich vor all diesen Leuten aufgeführt wie eine gewöhnliche Dirne; und doch hatte sie ihn geohrfeigt, als er sie nur am Arm berührte.
Kaum ein Tag verging, an dem ihm nicht wieder lebhaft vor Augen stand, wie sie mit der Hand ausholte, wie sie ihn dabei angesehen hatte, als wäre er ein Mann aus der Gosse. Er wußte, warum sie sich ihm verweigert hatte. Sie glaubte, sie wäre etwas Besseres als er. Schließlich war sie ja eine Courtalain, Sproß einer Familie, deren Geschichte mit französischen Königinnen und Königen verwoben war. Undwas war er? Der Sohn eines Flickschusters. Er glaubte, sie würde ihn akzeptieren, falls sie entdeckte, daß er mit ihr
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