Geliebter Tyrann
und Leute, die ihrer Arbeit nachgingen.
Sie atmete tief die süße Sommerluft ein, den Duft von hunderterlei verschiedener Pflanzen, die ihre Kopfschmerzen nun endgültig verscheuchten, und konnte es kaum erwarten, das alles aus der Nähe zu besichtigen.
»Nicole!« rief jemand.
Nicole lächelte und winkte zu Janie hinunter.
»Komm herunter, und iß eine Kleinigkeit.«
Nicole merkte erst jetzt, wie ausgehungert sie war, als sie eine der beiden Türen öffnete und die Treppe hinunterging, ln der Halle hing eine Reihe von Porträts, standen ein paar Sessel und zwei kleine Tische, überall, wohin sie auch schaute, entdeckte sie Schönheit. Im Erdgeschoß endete die Treppe in einem großen, zentralen Raum, und über dem Treppenabsatz wölbte sich ein doppelter, herrlich geschnitzter Bogen. Sie stand unschlüssig darunter und wußte nicht, in welche Richtung sie gehen sollte, als Janie erschien.
»Hast du gut geschlafen? Wo hat Clay dich gefunden? Warum bist du überhaupt weggelaufen? Clay wollte mir nicht verraten, was er zu dir gesagt hat, als du ausgerissen bist; doch ich kann mir denken, es war etwas Schreckliches. Du siehst ein bißchen dünn aus.«
Lachend hob Nicole beide Hände in einer Geste der Ergebung. »Ich bin halb verhungert. Ich gebe dir gern Auskunft, wenn du mir dafür zeigst, wo ich etwas zu essen bekommen kann.«
»Natürlich! Das hätte ich mir eigentlich denken können und dich hier nicht aufhalten sollen.«
Nicole folgte ihr zur Gartentür, die auf einer achteckigen Veranda mündete, von der Treppen in drei verschiedene Richtungen abgingen. Die Stufen rechter Hand, erklärte Janie, führten zu Clays Büro und zu den Ställen; über die mittlere Treppe gelangte man auf die schattigen, von Büschen abgeschirmten Gartenwege. Janie wählte die Stufen zur Linken, die sie zu den Küchengebäuden brachten.
Dort traf sie die Köchin Maggie, eine stattliche Frau mit fuchsigroten Haaren. Janie erklärte, daß Maggie einmal eine zum Frondienst verpflichtete Dienerin gewesen sei, aber nun, wie viele von Clays Angestellten, beschlossen hatte, auch nach dem Ablauf der Pflichtzeit im Hause zu arbeiten.
»ünd wie geht es Ihrem Bein heute morgen?« fragte Maggie mit einem Zwinkern in ihren braunen Augen. »Eigentlich müßte es wieder ganz heil sein nach der zärtlichen Behandlung, die es heute nacht bekam.«
Nicole blickte die Köchin verwirrt an und wollte schon fragen, was sie damit meine.
»Sei still, Maggie!« kam Janie ihr zuvor, doch die beiden Frauen wechselten einen verständnisinnigen Blick, als Janie Nicole auf den Tisch zuschob und sie nicht zu Wort kommen ließ.
Sie füllte Nicoles Teller bis zum Rand mit Eiern, Schinken, Butterkuchen, Blaubeerpudding, gebratenen Äpfeln und heißen Biskuits. Nicole konnte nicht einmal die Hälfte davon essen und entschuldigte sich, daß so viel Nahrung umsonst zubereitet worden war. Maggie lachte und meinte, wenn man sechzig Leute dreimal täglich mit Essen versorgte, würde nichts weggeworfen.
Nach dem Frühstück zeigte Janie Nicole einige von den Dependancen, wie die Nebengebäude einer Plantage in Virginia genannt wurden. Der Küche gegenüber befand sich der Milchraum, wo Butter und Käse hergestellt wurden, und gleich neben der Küche gab es einen langen, engen Anbau, in dem drei Weber an ihren Stühlen bei der Arbeit waren. Neben der Weberei war das Waschhaus, in dem gewaltige Waschzuber standen und Fässer voll Seife, ln den Stockwerken über den Werkstätten und daran angrenzend waren die Quartiere der Plantagenarbeiter, die sich aus Sklaven von Haiti, fronspflichtigen Leuten und Angestellten zusammensetzten, die auf der Lohnliste standen. Die Mälzerei und Räucherei befanden sich ebenfalls in bequemer Reichweite der Küche.
Von der Küchentür führte ein Pfad zum Nutzgarten, wo ein Mann und drei Kinder Unkraut in den Gemüsebeeten jäteten. Janie stellte Nicole jedem als Mrs. Armstrong vor. Nicole versuchte zweimal zu protestieren, indem sie erklärte, sie sei nur Gast auf der Plantage und ihr Aufenthalt von begrenzter Dauer.
Janie reckte jedoch die Nase in die Luft und tat so, als wäre sie taub, wobei sie vor sich hinmurmelte, Clay wäre ja wohl so vernünftig, wie ein Mann nur sein könne, und sie habe große Hoffnung in dieser Richtung.
Jenseits des Familiengartens, den, wie Janie sagte, Nicole lieber allein erkunden solle, befand sich Clays Büro, ein großes, von Ahornbäumen beschattetes Ziegelgebäude. Janie machte keine
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