Geliebter Tyrann
den Zwillingen. Nicole erkundigte sich nach seiner Familie.
»Es geht allen gut, nur, daß wir Sie alle vermissen. Karen hat gestern ein paar Pfirsiche eingelegt, und sie möchte Ihnen ein paar Gläser davon schicken. Und wie kommen Sie mit der Mühle voran? Sie scheinen ja schon eine Menge Kundschaft zu haben.«
»Mr. Armstrong hat überall verbreiten lassen, daß die Mühle wieder in Betrieb ist, und immer mehr Leute bringen jetzt ihr Korn zu mir.«
Er sah sie seltsam von der Seite an. »Clay ist ein sehr geachteter Mann.«
Sie erreichten das andere Ufer, und es fiel Nicole auf, daß Anders immer wieder den Fluß hinunterschaute. »Stimmt etwas nicht?«
»Die Schaluppe hätte schon wieder an der Mole liegen sollen. Wir hörten gestern abend, daß ein Schiff im Hafen läge, und Clay schickte die Schaluppe heute beim Morgengrauen an die Küste.«
»Sie machen sich ihretwegen Sorgen, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte er und half ihr aus dem Ruderboot. »Vielleicht trinken die Männer ein paar Becher Bier mit den Passagieren, oder etwas anderes hat sie aufgehalten. Es ist Clay, der sich Sorgen macht. Seit James und Beth ertranken, wird er schon nervös, wenn die Schaluppe sich auch nur eine Stunde verspätet.«
Sie gingen nebeneinander auf das Haus zu. »Haben Sie James und Beth gekannt?«
»Sehr gut.«
»Wie waren die beiden? Stand Clay seinem Bruder sehr nahe?« Anders ließ sich lange Zeit mit einer Antwort. »Die drei standen sich sehr nahe. Sie sind sozusagen in einer Wiege aufgewachsen. Clay hat den Tod der beiden zu schwer genommen, fürchte ich. Es hat ihn verändert.«
Nicole lagen noch hundert andere Fragen auf der Zunge. Wie hatte es ihn verändert? Was für ein Mensch war er vor dem Tod der beiden gewesen? Aber es war nicht fair, Anders über Clay auszufragen. Wenn Clay mit ihr darüber reden wollte, würde er das tun - so wie sie sich ihm anvertraut hatte.
Anders trennte sich von ihr an der Gartenveranda. Das Haus war innen noch so schön, wie sie es zuletzt gesehen hatte. Die Zwillinge schienen aus dem Nichts aufzutauchen, faßten sie links und rechts bei der Hand und zogen sie die Treppe hinauf. Sie hatten eine lange Liste von Geschichten, die sie ihnen erzählen sollte, ehe sie schlafen gingen.
Clay erwartete sie am Fuß der Treppe, die Hände nach ihr ausgestreckt. »Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung habe«, sagte er leise und sah sie mit einem hungrigen Blick an.
Sie blickte von ihm weg und bewegte sich auf das Eßzimmer zu, während er ihre Hand noch immer festhielt. Sie trug ein Kleid aus Rohseide mit kleinen Noppen im Gewebe, das im Licht leicht schimmerte. Es hatte eine warme, an Aprikosen erinnernde Farbe und einen Besatz von Satinbändern in einem etwas dunkleren Farbton. Es war sehr tief ausgeschnitten, die winzigen Puffärmel und das Leibchen mit Zuchtperlen bestickt, die ihr Licht von Nicoles Haut empfingen. Auch ihr Haar war von Perlschnüren und aprikosenfarbenen Bändern durchflochten.
Clay wandte nicht einmal den Blick von ihr, als sie zusammen in den Speiseraum traten. Nicole sah sofort, daß Maggie sich selbst übertroffen hatte. Der Tisch bog sich förmlich unter den Schüsseln und Platten.
»Ich hoffe, sie erwartet doch nicht, daß wir das alles aufessen«, sagte Nicole lächelnd.
»Ich denke, sie will dir damit nur andeuten, daß das Essen sich bessert, wenn du im Hause bist. Unddaß es besser werden muß, ist überhaupt keine Frage.«
»Ist die Schaluppe schon eingetroffen?«
Die Antwort war negativ. Sie sah es schon an seinem Stirnrunzeln, ehe er den Kopf schüttelte.
Kaum hatten sie am Tisch Platz genommen, als einer von den Plantagenarbeitern ins Zimmer stürmte. »Mr. Clay! Ich wußte nicht, was ich tun sollte«, sagte er in einer Explosion von Worten. Er hielt seinen Hund in den Händen und drohte ihn jeden Moment zu vernichten. Er war überaus nervös. »Sie sagte, sie wäre von weither gekommen, um Sie zu besuchen. Unddaß Sie mich aufhängen würden, wenn ich sie nicht hierherbrächte.«
»Beruhige dich, Roger. Wovon redest du eigentlich?« Clay warf seine Serviette auf seinen noch leeren Teller.
»Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben sollte. Ich dachte, sie wäre eine von diesen englischen Dirnen, die mich übertölpeln wollte. Doch dann sah ich sie mir genauer an, und sie sah Miss Beth so ähnlich, daß ich zunächst glaubte, es wäre sie selbst.«
Weder Nicole noch Clay hörten dem Mann zu, denn knapp hinter ihm stand schon Bianca.
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