Geliebter Tyrann
Ihr dunkelblondes Haar hing feucht und strähnig um ihr rundes Gesicht. Ihr kleiner Mund war schmollend verzogen. Nicole hatte das Gefühl, als hätte sie vergessen, wie Bianca wirklich aussah. Ihr Leben hatte sich so drastisch verändert in den letzten Monaten, daß die Zeit, die sie in England verbracht hatte, ihr wie ein Traum erschien. Nun erinnerte sie sich wieder lebhaft daran, wie Bianca Leute einzuschüchtern pflegte.
Nicole wandte sich Clay zu und betrachtete fassungslos dessen Gesicht. Er blickte Bianca an, als sähe er einen Geist. Seine Miene war eine Mischung aus Ungläubigkeit und Faszination. Plötzlich schien ihr ganzer Körper sich in Wasser aufzulösen. Tief in ihrem Inneren hatte immer die Hoffnung gelebt, er wüßte, daß er Bianca nicht mehr liebte, wenn er sie wiedersah. Während salzige Tränen ihr in den Augenwinkeln brannten, wußte sie, daß sie verloren hatte: er hatte sie noch nie so angesehen, wie er nun Bianca anstarrte.
Nicole holte tief Luft, stand auf und ging durch den Raum auf Bianca zu. Sie hielt ihr die rechte Hand hin. »Darf ich Euch auf Arundel Hall willkommen heißen?«
Bianca betrachtete Nicole mit einem haßerfüllten Blick und übersah die Hand, die Nicole ihr zur Begrüßung reichen wollte. »Du benimmst dich, als gehöre dir das Haus«, sagte sie leise und lächelte Clay dann unterwürfig an. »Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?« fragte sie neckisch, wobei sich in ihrer linken Wange ein Grübchen zeigte. »Ich bin weit gereist, um dir nahe zu sein.«
Clays Stuhl fiel fast um, als er durch den Raum zu Bianca eilte. Er faßte sie mit beiden Händen bei den Schultern und starrte ihr mit einer brennenden Intensität ins Gesicht. »Willkommen«, flüsterte er und küßte dann ihre Wange. Er merkte gar nicht, wie sie vor seiner Berührung zurückzuckte. »Bringe ihr Gepäck nach oben, Roger.«
Roger war froh, sich entfernen zu können. Er hatte soeben sechs Stunden mit dieser blonden Frau in der Schaluppe verbracht und sich ein paarmal gewaltig zusammennehmen müssen, damit er sie nicht über Bord warf. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß sich eine Frau in so kurzer Zeit über so viele Dinge beschweren konnte. Sie hatte ihn und seine Mannschaft tyrannisiert, weil sie nicht dauernd um sie herumdienerten. Sie schien der Meinung zu sein, Männer seien nur dazu da, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Je näher die Schaluppe der Armstrong-Plantage kam, um so überzeugter war Roger, daß er einen großen Fehler machte, wenn er diese Dame bei Clay ablieferte.
Nun betrachtete Roger kopfschüttelnd, wie Clay diese Frau anstarrte. Wie konnte' er nur einen Blick an diese Blondine verschwenden, wenn diese hübsche kleine Miss Nicole neben ihm stand und sich ihr Herz in ihren Augen spiegelte? Roger zuckte mit den Schultern, stülpte seinen Hut wieder auf den Kopf und trug die Koffer nach oben. Schiffe waren sein Geschäft und nicht Frauen, Gott sei Dank!
»Clayton!« sagte Bianca scharf, sich seinem Griff entziehend. »Willst du mir nicht einen Stuhl anbieten? Die lange Reise hierher hat mich ganz erschöpft, fürchte ich.«
Clay versuchte, ihren Arm zu nehmen, doch sie wich ihm aus. Er hielt am Kopfende des Tisches links neben seinem Platz einen Stuhl für sie bereit. »Du mußt hungrig sein«, sagte er und holte ein Gedeck von der Chippendale-Anrichte.
Nicole stand unter der Tür und beobachtete die beiden. Clay bemühte sich um Bianca wie eine Mutterhenne. Bianca schob die grüne Gaze ihres Kleides zur Seite und setzte sich. Nicole schätzte, daß Bianca mindestens zwanzig Pfund zugenommen haben mußte, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Sie war groß genug, um dieses Gewicht verkraften zu können, und noch hatte es nicht ihr Gesicht entstellt; doch ihre Hüften und Schenkel hatten beträchtlich an Umfang zugenommen. Bis zu einem gewissen Grad wurde das durch die hohe Taille beherrschende Mode kaschiert; doch da die Kleider keine Ärmel hatten, waren ihre schweren Oberarme vollkommen entblößt.
»Ich möchte alles wissen«, sagte Clay, der sich über sie beugte. »Wie bist du hierhergekommen? Wie war die Überfahrt?«
»Sie war schrecklich«, sagte Bianca und senkte ihre blassen Wimpern. »Als dein Brief ankam, der an meinen Vater adressiert war, war ich untröstlich. Ich erkannte, was für ein schrecklicher Fehler da passiert war. Natürlich bestieg ich sofort das nächste verfügbare Schiff.« Sie lächelte zu ihm hinauf. Als ihr Vater ihr den Brief gezeigt
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