Geliebter Tyrann
aus dem Haus, ehe jemand etwas sagen konnte.
»Sind Sie mit Janie befreundet?« fragte Nicole, während sie für Wes in einen Becher kalten Apfelwein eingoß.
»Eher ein Freund von Clay.« Er beobachtete ihr Gesicht, doch dann zog ihr Mund wieder seinen Blick an. Die Oberlippe faszinierte ihn. »Wir sind zusammen aufgewachsen oder haben jedenfalls eine Menge Zeit miteinander verbracht.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte sie mit großen, begierigen Augen. »Wie ist er als kleiner Junge gewesen?«
»Anders«, sagte Wes, sie beobachtend. Sie liebt ihn, dachte er. »Ich glaube, die... jetzige Situation schlägt ihm aufs Gemüt.«
Sie stand auf und ging zum Herd hinter ihm. »Ich weiß, daß sie ihm zusetzt. Ich nehme an, er hat Ihnen die Geschichte erzählt.« Sie wartete nicht auf sein Nicken. »Ich versuchte, ihm die Sache leichter zu machen, indem ich auszog. Nein, das ist nicht richtig. Ich versuchte, mir die Situation zu erleichtern. Er wird wieder glücklich sein, wenn unsere Ehe annulliert und er frei ist, um Bianca zu heiraten.«
»Bianca. Sie haben für sie in England gearbeitet?«
»In gewisser Weise. Viele Engländer waren so freundlich, uns aufzunehmen, nachdem wir aus unserem Land fliehen mußten.«
»Wie sind Sie statt Bianca in die Hände der Entführer gefallen?« fragte er sehr direkt.
Nicole errötete, als sie sich an diese Szene erinnerte. »Bitte, Mr. Stanford, wir wollen lieber über Sie reden.«
Wes sagte ihr Erröten mehr als viele Worte. Was für eine Frau würde so großzügig sein, das Essen für den Mann zuzubereiten, den sie liebte, wenn sie wußte, daß er es mit einer anderen Frau verzehren würde? Er hatte sich schon ein Fehlurteil geleistet und wollte das nicht zum zweitenmal tun. Er würde abwarten, bis er Bianca kennengelernt hatte, ehe er sich seine endgültige Meinung bildete.
Eine Stunde später verließ Wes widerstrebend die stille Ordnung von Nicoles kleinem Haus, um sich nach Arundel Hall zu begeben. Er hatte sich nicht verabschieden wollen; war jedoch gespannt darauf, Bianca kennenzulernen. Wenn Nicole Clays zweite Wahl war, dann mußte seine erste ein wahrhaftiger Engel sein.
»Was hältst du von ihr?« fragte Clay, als er Wes am Ende des Gartens begrüßte.
»Ich trage mich mit dem Gedanken, ein paar Entführer nach England zu schicken. Wenn ich nur halb so gut abschneide wie du, werde ich glücklich sterben.«
»Du hast Bianca noch nicht gesehen. Sie wartet im Haus und ist begierig, dich kennenzulernen.«
Wesleys erster Blick auf Bianca war ein Schock für ihn. Es war, als sähe er James' Frau Beth vor sich. Sogleich fühlte er sich wieder in die Tage zurückversetzt, als das Haus voller Liebe und Gelächter gewesen war. Beth hatte ein Talent gehabt, jedem das Gefühl zu geben, als sei er hier zu Hause. Ihr lautes Lachen konnte man in allen Ecken des Gebäudes hören. Es gab keinen Obdachlosen im Umkreis von zwanzig Meilen, der an ihrem Tisch nicht willkommen gewesen wäre.
Beth war eine große und kräftige Frau gewesen, ihre Energie hatte jeden angesteckt. Sie konnte den ganzen Morgen über auf der Plantage arbeiten, den ganzen Nachmittag mit James und Clay auf der Jagd durch die Wälder reiten und, wie Wes mutmaßte, weil James ständig ein Lächeln auf dem Gesicht trug, die ganze Nacht hindurch lieben. Sie pflegte die Kinder an ihren Busen zu drücken und sie mit Liebe zu überschütten. Sie konnte mit einer Hand Plätzchen backen und mit der anderen drei Kinder zugleich umarmen.
Einen Moment lang spürte Wes, wie seine Augen naß wur-den. Beth war plötzlich so lebendig geworden, daß er fast zu glauben geneigt war, sie wäre wieder auf die Erde zurückgekehrt.
»Mr. Stanford«, sagte Bianca leise, »wollen Sie nicht eintreten?«
Wes kam sich wie ein Tölpel vor und wußte, daß er auch so aussehen mußte. Er blinzelte ein paarmal, damit seine Augen wieder klar wurden, und sah dann auf Clay. Er verstand nun, in welcher seelischen Zwickmühle dieser steckte.
»Wir bekommen so selten Besuch«, sagte Bianca, während sie die Männer in den Speiseraum führte. »Clayton hat mir versprochen, daß wir bald wieder Gäste haben werden. Das heißt, sobald diese beklagenswerte Situation bereinigt ist und ich die wahrhafte Herrin der Plantage bin. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Wes war immer noch von ihr hypnotisiert, von ihrer Ähnlichkeit mit Beth; doch ihre Stimme war anders, ihre Bewegungen auch, und sie hatte ein Grübchen in der linken Wange, das er
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