Geliebter Tyrann
süßer Stimme. »Ich denke doch nicht daran, mich euch Männern aufzudrängen. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, würde ich mich gern zurückziehen. Es ist ein anstrengender Tag gewesen.«
»Natürlich«, sagte Clay.
Wes verabschiedete sich mit einem gemurmelten Gute-Nacht, drehte sich dann um und verließ das Eßzimmer. Als er in der Bibliothek war, schenkte er sich einen kräftigen Schuß Whisky ein und goß ihn hinunter. Er schenkte sich zum zweitenmal ein, als Clay den Raum betrat.
»Wo ist das Porträt von Beth?« fragte Wes durch zusammengebissene Zähne.
»Ich habe es in meinem Büro aufgehängt«, antwortete Clay, während er sich ebenfalls einen Brandy einschenkte.
»Damit du dauernd in ihrer Nähe sein kannst? Du hast nun also eine Kopie von Beth, die in deinem Hause herumspaziert, und ein Porträt von ihr in deinem Büro, wo du den Rest des Tages verbringst.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Clay verärgert.
»Du weißt genau, wovon ich spreche! Ich meine diese eitle, übergewichtige Schlampe, die du als Ersatz für Beth ins Haus genommen hast.«
Clays Augen sprühten Blitze. Er war der größere der beiden, ein kräftiger, harter Mann; doch Wes war nicht weniger muskulös als Clay. Sie hatten noch nie miteinander gekämpft
Dann beruhigte sich Wes plötzlich. »Hör zu, Clay! Ich möchte nicht brüllen. Ich möchte nicht einmal mit dir streiten. Ich denke, daß du jetzt einen Freund gebrauchen kannst. Kannst du denn nicht sehen, was du tust? Diese Frau sieht aus wie Beth. Als ich sie zum erstenmal sah, dachte ich, sie wäre Beth. Aber sie ist es nicht! Ganz und gar nicht.«
»Dessen bin ich mir bewußt«, erwiderte Clay mit tonloser Stimme.
»Wirklich? Du schaust sie an, als wäre sie eine Göttin; doch hast du ihr schon einmal zugehört? Sie ist so weit von Beth entfernt, wie das überhaupt für einen Menschen möglich ist. Sie ist eine eitle, arrogante Heuchlerin.«
Im nächsten Moment landete Clays Faust in Wesleys Gesicht. Wes taumelte gegen den Schreibtisch, drehte sich um seine Achse und landete in einem roten Ledersessel. Er rieb sich den Kiefer und schmeckte sein Blut auf der Zunge. Einen Moment lang war er versucht, sich auf Clay zu stürzen. Vielleicht würden ein paar tüchtige Hiebe ihm etwas Vernunft in den Kopf bringen. Vielleicht würde er in einem Boxkampf den alten Clay wiedererkennen.
»Beth ist tot«, flüsterte Wes. »Sie und James sind tot, und wenn du dich auch noch so sehr bemühst, wird nichts die beiden zurückbringen.«
Clay blickte seinen Freund an, der auf dem Ledersessel kauerte und sich das Kinn rieb. Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht über die Lippen. Da waren so viele Dinge zu sagen und doch zu wenige. Er drehte sich um und ging aus der
Bibliothek, aus dem Haus und auf die Tabakfelder zu. Vielleicht würden ein paar Stunden Arbeit helfen, sich zu beruhigen. Seine Gedanken an Beth und Nicole abzulenken - nein, von Bianca und Nicole.
10
Die Bäume nahmen das Festkleid des Herbstes an. Sie glühten in roten und goldenen Farben. Nicole stand auf der Kuppe eines Hügels und sah auf die Mühle und ihr Haus hinunter. Durch die Bäume konnte sie das Glitzern der Sonne auf dem klaren dahinschießenden Wasser sehen.
Es war zehn Tage her, seit Wesley Stanford sie besucht hatte, und mehr als einen Monat seit jener schrecklichen Nacht, als Bianca in ihr Leben zurückgekehrt war. Sie hatte geglaubt, die harte Arbeit in der Mühle würde alles aus ihrem Bewußtsein tilgen; doch das war nicht geschehen.
»Du genießt die Ruhe?«
Nicole fuhr zusammen, als sie Clays Stimme hörte. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er mit Bianca zusammen war.
»Janie sagte mir, wo ich dich finden könne, ich hoffe, ich störe nicht.«
Sie drehte sich langsam um und sah zu ihm hoch. Die Sonne stand hinter seinem Kopf und zauberte an die Spitzen seiner dunklen Haare eine goldene Farbe. Er sah erschöpft und älter aus. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen, als hätte er nicht gut geschlafen.
»Nein«, antwortete sie lächelnd. »Du störst nicht. Geht es dir gut? Ist dein Tabak schon geerntet?«
Sein Mund lockerte sich. Aus einem harten Strich wurde ein weiches Lächeln. Er setzte sich auf den Boden, streckte sich darauf aus und schaute durch eine rot-goldene Baumkrone zum Himmel hinauf. Er schien sich sofort zu entspannen. Die Nähe von Nicole genügte schon, daß er sich besser fühlte.
»Deine Mühle scheint ja ein großer Erfolg zu sein. Ich
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