Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
Augenblick, um wieder Luft zu bekommen.
Sie öffnete das Paket. Darin befand sich eine Styroporform, in deren Mitte sich ein mit rotem Satin bezogenes, herzförmiges Kästchen befand. Sie zog es heraus. Es war viel schwerer, als Fiona gedacht hätte. Sie klopfte auf die Seite: Unter dem Stoff befand sich Massivholz, keine Pappe.
Sie fuhr mit dem Finger über die üppigen Falten auf dem Deckel und griff dann nach seinem Rand, um ihn abzunehmen … und erstarrte.
Was, wenn das die erste Heldenprüfung war?
Sie stellte sich vor, dass das Kästchen voller giftiger Hundertfüßer war. So, wie Fionas Leben verlief, war das wahrscheinlicher, als ein Kästchen von einem heimlichen Verehrer geschenkt zu bekommen.
Sie hob das Kästchen und schnupperte daran. Der Geruch von Pfefferminze, Mandeln, Ingwer und Schokolade stieg ihr in die Nase.
Fionas Hände schienen sich wie von selbst zu bewegen; sie hoben den Deckel und rissen eine Lage Seidenpapier ab. Ihr stockte der Atem.
Ein Dutzend Pralinen lag vor ihr, in gerüschte Seidenförmchen gebettet: fette Trüffel, schwere Medaillons, in Folie gewickelte Kugeln, cremige weiße Sterne und runzlige Herzen. Keine einzige Praline war wie die andere. Fionas Fingerspitzen schwebten über ihnen.
Noch einmal zog sie die Möglichkeit in Betracht, dass sie vielleicht vergiftet waren – dass es irgendeine Art von Prüfung war -, tat den Gedanken aber dann als albern ab. Sie würde sich nicht das erste Geschenk, das sie je von einem heimlichen Verehrer bekommen hatte, mit ihrem Verfolgungswahn verderben.
Ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Es stellte sich nicht länger die Frage, ob sie eine Praline essen sollte – sondern nur, welche sie zuerst essen würde.
Sie schloss die Augen und zeigte direkt auf die Mitte: ein milchiges Oval mit dunkler Maßwerkverzierung, das wie ein abstraktes Kunstwerk aussah. Sie hob es auf, und der Geruch der reichhaltigen Schokolade kitzelte sie in der Nase. Ihr lief so unvermittelt das Wasser im Mund zusammen, dass sie sich die Mundwinkel abwischen musste.
Dann führte Fiona die Praline an die Lippen. Ein winziger Bissen, der sich anfühlte wie ein Kuss. Und zwar nicht wie ein Gutenachtkuss auf Großmutters Wange. Der hier war lang und tief und drang in ihr Innerstes; ob es sich wohl so anfühlte, Robert zu küssen?
Butterweicher Zitrusgeschmack und rauchiger Kakao breiteten sich in ihrem Mund, ihre Kehle hinab aus. Sie nahm noch einen Bissen, und Aprikosen in Honig überfluteten ihren Gaumen, gemischt mit der überraschenden Schärfe von Brandy.
Fionas Herz pumpte Blut in jedes Kapillargefäß; ihre Haut wurde über und über rot.
Sie hatte sich noch nie innerlich wie äußerlich so warm gefühlt – und auch noch nie so lebendig.
Sie schlang den Rest der Praline hinunter. Es war nicht nötig, nur daran zu knabbern, wenn sie so viele hatte.
Die Intensität der Schokolade überwältigte sie; sie setzte sich hin, und jeder Quadratzentimeter ihres Körpers prickelte vor Kälte und Feuer.
Fiona schluckte den Rest. Sie ruhte sich aus, schöpfte Atem.
Ihr Verstand flog über Wolken, eilte ihrem pulsierenden Körper mit Schallgeschwindigkeit voraus. Funken und das Aufblitzen von Polarlichtern erfüllten ihre Gedanken.
Da begriff sie es – verstand, was sie tun musste, um heute Abend alles zu schaffen.
Fiona setzte den Deckel wieder auf den Pralinenkasten und stopfte ihn in eine Einkaufstüte aus Plastik, die sie sich dann ins Hemd schob. Sie atmete ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Solange sie in Bewegung blieb, hatte sie eine gewisse Chance, dass niemand das Kästchen bemerken würde.
Sie marschierte aus dem Umkleideraum heraus …
… und rannte geradewegs Eliot in die Arme.
»Ich bin fertig.« Er wirkte erschöpft, als er die durchnässte Schürze abstreifte und das Haar, das ihm im Gesicht klebte, löste. »Also … Ich dachte, wir könnten auf dem Nachhauseweg reden.«
»Dann lass uns jetzt auch nach Hause gehen. Hör auf herumzubummeln.« Fiona drückte sich an ihm vorbei und ging durch die Hintertür, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sie trat schwungvoll aus dem Gässchen auf den Bürgersteig. Eliot joggte hinter ihr her, um mithalten zu können.
»Womit fangen wir also an?«, fragte er. »He, kannst du auch langsamer gehen?«
»Nein. Wir sind heute schon spät genug losgekommen. Fangen wir damit an, dass wir uns Machiavellis Diskurse über die Niedertracht ansehen. Ich habe das Gefühl, dass diese
Weitere Kostenlose Bücher