Gemma
anmerken. Liebevoll
strich sie über Bryce' bandagierte Hände. Seine Finger und Handflächen waren
roh und blutig gewesen, und Gemma fragte sich, wobei er sich derartige Verletzungen
wohl zugezogen hatte. Es war Butch, der ihre stumme Frage beantwortete.
»Das Steuer kann eine Furie sein«, meinte er, »ein echtes
Miststück, aber es wäre nicht gut, es loszulassen in solch einem Sturm, weil
es sich dann gegen einen wendet.«
Mit Tränen in den Augen hauchte sie einen Kuss in Bryce'
Handfläche. Was hatte er auf sich genommen, um sie sicher durch diesen Sturm zu
geleiten?
Es war ihr vorher überhaupt nicht bewusst geworden, aber nun fiel
ihr auf, dass der Sturm nicht nur nachgelassen hatte, sondern fast vollständig
abgeflaut war. Und noch etwas anderes fiel ihr auf.
»Butch, wo ist Jessup?«, fragte sie beunruhigt. Selbst wenn seine
Anwesenheit an Deck während des Sturms unabdingbar gewesen war, warum kam er
denn nicht jetzt herunter, um nach Bryce zu sehen?
Butch schluckte schwer, und Gemma fühlte, wie sich ihr Herz mit
einer dumpfen Ahnung erfüllte. »Butch?«, fragte sie leise. »Wo ist Jessup?«
Butch sah betreten auf seine Füße. Ihm war anzusehen, dass er sich
sehr weit fort von hier wünschte.
»Butch?« Gemmas Stimme wurde lauter,
schriller. Angst presste ihr das Herz zusammen, während sie es nicht wagte, ihre
blauen Augen von Butch abzuwenden.
»Miss Gemma, Ihr müsst jetzt sehr tapfer sein ...«, begann er, und
Gemma wich Schritt um Schritt vor ihm zurück, die Arme abwehrend ausgestreckt.
»Nein«, wisperte sie mit tränenerstickter Stimme. »Nein, sag, dass
es nicht wahr ist ...« Butch folgte ihr langsam.
»Als wir nach der Sturzsee an Deck kamen, fanden wir nur den
Captain unter der herabgestürzten Rahe.« Er schluckte. »Es gab keine Spur von
Mister Harper. Es tut mir leid, Miss Gemma, aber Jessup Harper wurde über Bord
gespült.«
Einen Augenblick starrte Gemma ihn an, als hätte sie ihn nicht
gehört. Dann verdrehte sie die Augen und stürzte bewusstlos zu Boden.
Kapitel 17
In den darauffolgenden Tagen fand Gemma wenig Gelegenheit, um
Jessup zu trauern. Bryce' Pflege nahm sie voll und ganz in Anspruch.
Sie war erwacht, als Butch ihr kleine Schläge auf die Wangen
versetzt hatte. Unwillig hatte sie den Kopf abgewandt, um sich noch etwas
länger in das süße Dunkel des Vergessens zu flüchten, aber davon hatte Butch
nichts wissen wollen.
Gemma fühlte sich ausgelaugt, wie zerschlagen, und die Gewissheit,
Jessup Harper niemals wiederzusehen, trug nicht dazu bei, ihre Lebensgeister
wieder zu wecken.
Aber unbarmherzig hatte Butch sie vorangetrieben. Er hatte ihr
Wasser in eine Schüssel gegossen, damit sie sich das Blut abwaschen konnte, und
dann die Kajüte verlassen.
Eine halbe Stunde später saß sie, in ein
frisches Kleid gewandet, auf der Kante der Koje und streichelte über Bryce'
reglose Züge, als es leise an der Tür klopfte. Mit tränenüberströmtem Gesicht
sah Gemma auf. Tabby schlurfte in die Kajüte, einen Arm in der Schlinge und mit
einem gequälten Lächeln auf dem Gesicht. Ihm folgte Butch Harron, mit einem
Kessel Tee. Tabby trat zu ihr. Sein Blick fiel auf Bryce, bevor er Gemma
ansah.
»Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir sehr leid um
Jessup. Er war ein feiner Kerl.« Schweigend sah er auf Bryce, ehe er fortfuhr.
»Ich denke nicht, dass es klug wäre, es ihm zu sagen, sobald er aufwacht.«
Gemma schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vorgehabt, Bryce sofort
davon in Kenntnis zu setzen, dass sein bester Freund nicht mehr lebte.
»Hatte er Familie?«, fragte sie nach einer Weile leise. Seltsam,
sie hatte ihn nie danach gefragt, aber vielleicht hatte ihr eine solche
Vertrautheit auch nicht zugestanden.
»Eine Frau und vier Kinder.«
Gemma schloss gequält die Augen. Tränen
quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, als sie an den Schmerz dachte,
den die Nachricht von seinem Tod Jessups Familie bringen würde. Die Seefahrt
war ein Risiko, mit dem jede Frau eines Seemanns leben musste. Die See war eine
Geliebte, mit der man den Ehemann ohne Eifersucht teilen musste. Aber dennoch
war es unmöglich, sich auf den Moment vorzubereiten, wenn man erfuhr, dass der
Mann oder der Vater nie wieder nach Hause zurückkehren würde.
»Ihr solltet Euch etwas hinlegen, Kindchen.«
Tabbys Hand drückte beruhigend ihre Schulter, und Gemma legte ihre kleine Hand
über seine knorrige, dankbar für den Trost und das Gefühl der Geborgenheit, das
er ihr
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