Gemma
Aufschub gewährte.
Wundbrand.
Allein der Gedanke trieb Gemma den Schweiß auf die Stirn.
Was sollte sie tun, was konnte sie tun, wenn sie tatsächlich den strengen,
süßlichen Geruch faulenden Fleisches wahrnahm? Hatte sie eine andere Wahl, als
Butch Harron davon in Kenntnis zu setzen, auf dass er Bryce' Bein abschneiden
und ihn auf ewig verstümmeln würde? Gemma weigerte sich, daran zu denken.
Nichts dergleichen würde geschehen. Die Wunde würde heilen. Bryce würde sein
Bein behalten.
Tag und Nacht war Gemma an Bryce' Seite. Sie
schlief nicht, außer in den kurzen Momenten, in denen sie entkräftet neben ihm
zusammensank, nur um hochzuschrecken, wenn er sich unruhig vor Schmerzen hin- und
herwälzte. Mit jedem Tag verlor sie mehr an Gewicht. Butch verwöhnte sie mit
den schönsten Leckereien, und Tabby tat sein Möglichstes, um Gemma zum Essen
zu überreden, aber wenn überhaupt, aß sie allenfalls wenige Bissen von den
dargebotenen Köstlichkeiten. Ihr schmales Gesicht wirkte eingefallen, die
Wangen hohl, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.
»Miss Gemma, bitte, Ihr müsst etwas essen«, versuchte Tabby zum
wiederholten Male, sie zum Essen zu überreden. »Ihr werdet selbst noch krank,
und wer soll sich dann um den Captain kümmern?«
Gemmas blasse Lippen verzogen sich zu der Andeutung eines
Lächelns. »Du wirst dich dann schon um ihn kümmern, Tabby.« Sie sah ihn an.
»Versprich mir das.«
Tabby schüttelte den Kopf. »Ihr wisst ganz genau, dass der
Captain nur Euch um sich duldet. Und was wird er sagen, wenn er erwacht und
Euch so schwach und bleich vorfindet?« Ja, dachte Gemma, was würde er
wohl sagen? Würde er es überhaupt bemerken? Ihr Blick fiel auf Bryce'
Gesicht, das, wenn auch noch immer blass und angespannt, nicht mehr totenbleich
war. Seine Lippen hatten ein wenig Farbe bekommen.
Es war schon eigenartig, aber wie Tabby sagte, schien
Bryce nur dann ruhig und entspannt zu sein, wenn sie an seiner Seite war.
Sobald Tabby sich um ihn kümmerte, damit Gemma ein paar Minuten Zeit für ihre
eigenen Bedürfnisse gewann, begann Bryce unruhig zu werden. Es war beinahe so,
als würde er ihre Anwesenheit spüren.
Am Morgen des fünften Tages nach dem Sturm hatte Gemma Tabbys
Drängen nachgegeben und Bryce in seiner Obhut gelassen, damit sie das erste
Mal seit langem an Deck gehen konnte. Eine sanfte Brise empfing sie und
streichelte über ihre blassen Wangen. Es war, als wäre die Natur durch die Opfer,
die sie gefordert hatte, besänftigt worden.
Die Männer, einer nach dem anderen, drehten sich zu ihr um, als
sie ihre Anwesenheit gewahr wurden. Seufzend lehnte Gemma sich an die hölzerne
Reling. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie die Freiheit auf Deck
vermisst hatte. Während der Zeit in Bryce'
Kajüte war das große Fenster im Heck ihre einzige Pforte hinaus in die Welt
gewesen, nun aber spürte sie endlich wieder den Wind in ihrem Gesicht.
»Miss
Gemma?«
Daniels' Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Was gibt's, Mister Daniels?«, fragte sie und
sah ihn an.
»Ich wollte Euch nur – auch im Namen der Mannschaft – sagen, wie
sehr wir es zu schätzen wissen, was Ihr für den Captain getan habt, Ma'm.
Mister Harron sagt, er würde wieder gesund werden.« Hoffnungsvoll richteten
sich seine Augen auf ihr Gesicht.
Gemma lächelte ihn an. »Ich glaube schon, dass der Captain bald
wieder an Deck sein wird.«
»Das
ist gut«, seufzte Daniels. »Das ist wirklich gut.« Gemma krauste die Stirn.
»Was ist los, Mister Daniels? Gibt es ein Problem?«
»Nun ja, wie man's nimmt. Der Sturm hat uns,
glaub ich, ganz schön von unserem Kurs abgetrieben. Ich bin zwar der
Steuermann, aber der Captain und Mister Harper sind die Navigatoren an Bord der Dragonfly. Und ohne Mister Harper«, Daniels bekreuzigte sich hastig,
»und den Captain treiben wir mehr oder weniger führerlos über den Ozean. Zwar
halten wir weiterhin Kurs nach Westen, aber ohne unsere genaue Position ist es
unmöglich zu sagen, wann, und vor allem wo, wir auf Land treffen werden.«
Gemma starrte ihn an. Sie hatte nicht daran
gedacht, in welch prekäre Lage der Sturm die Dragonfly gebracht haben
könnte. Während der letzten Tage hatte sie das unermüdliche Klopfen und Hämmern
vernommen, als die Männer das Schiff wieder auf Vordermann gebracht und den
Mast repariert hatten, und hatte daher angenommen, dass nach den notwendigen
Reparaturen, die auf See vorgenommen werden konnten, die Reise ohne
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