Gemma
hinunter an Land schritt. Sie wusste, dass er zu viel zu tun hatte,
um bei ihr zu sein, aber sie hatte gehofft, er würde sich kurz zu ihr umsehen.
Aber Bryce verschwand ohne einen Blick zurück in der Hafenmeisterei.
Obwohl es Bryce drängte, endlich nach Hause zu kommen, verbrachten sie
eine weitere Nacht an Bord. Am Morgen würde die Ladung gelöscht werden. Bryce
wollte dabei sein und den Vorgang überwachen. Danach würde die Dragonfly ihren
Platz am Kai verlassen und ins Dock gehen, wo sie gründlich überholt werden
sollte.
Wie in jeder Nacht, hatte Bryce ihren Körper zum Glühen gebracht,
aber diesmal konnte Gemma danach nicht entspannt einschlafen. Zu viel ging ihr
im Kopf herum. Was wurde aus Jessups Familie?
Und was wurde aus ihr? Unbewusst strich sie über ihren Bauch. Noch
war er flach, aber schon in wenigen Monaten würde sie ihren Zustand nicht mehr verbergen können. Was dann? Wäre sie dann noch bei Bryce? Wenn ja,
würde sie es ihm schon bald sagen müssen. Aber was war, wenn er sie ver stieß? Würde sie genügend Kraft haben, alleine ein Kind aufzuziehen?
Unverheiratete Frauen mit Kind waren sicher auch in Amerika nicht allzu hoch
angesehen. Andererseits kannte sie hier niemand, und sie konnte sagen, ihr Mann
sei auf der Überfahrt gestorben.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie daran dachte, wie nahe
eine solche Behauptung beinahe der Wahrheit gekommen wäre.
»Gemma?« Bryce' schlaftrunkene Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Was ist?«, fragte Gemma leise.
Er lachte. »Genau das wollte ich eigentlich
dich fragen.« Er drückte einen Kuss hinter ihr Ohr. »Seit Tagen schon bist du nicht du selbst. Du bist geistesabwesend, nervös und noch nicht
einmal, wenn wir uns leidenschaftlich lieben, bist du bei der Sache.«
»Das ist nicht wahr«, entgegnete Gemma empört und wollte sich
aufsetzen, aber Bryce lachte und zog sie noch fester an sich.
»Nun, vielleicht nicht gerade dann, aber zumindest sehr bald
danach. Ich liebe das Gefühl, wenn du erschöpft in meinen Armen schläfst, aber
in den letzten Nächten bist du wach gewesen.« Wieder hauchte er einen Kuss
hinter ihr Ohr. Gemma erschauderte. Bryce wusste genau, dass sie das mochte.
»Was ist los, Liebling?«, fragte Bryce.
Gemma schwieg. Wie hatte ihr nur entgehen können, dass Bryce in
den vergangenen Nächten ebenfalls wach gelegen hatte? Sie hatte auch nicht
erwartet, dass er jede ihrer Stimmungsschwankungen so intensiv wahrnehmen
würde. So aufmerksam er die letzte Woche auch gewesen war, so wenig hatte er
sich anmerken lassen, dass er anscheinend in ihr lesen konnte wie in einem
Buch.
Gemma seufzte und drehte sich zu Bryce um.
»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ist es nur die Aufregung, ein völlig
fremdes Land zu betreten. Auch wenn mein Vater Kapitän war und mir so unendlich
viel über andere Länder erzählt hat, so ist es doch das erste Mal, dass ich
selbst England verlassen habe und meinen Fuß auf ein unbekanntes Land setze.«
Bryce strich über ihren Bauch, und Gemma erstarrte, bevor sie
sich zwang, sich zu entspannen. Bryce schien nichts bemerkt zu haben.
»Warum hast du denn nichts gesagt, mein Schatz? Wenn ich geahnt
hätte, wie begierig du darauf bist, deine entzückenden Füße«, er strich mit
einem Fuß über ihre, »auf unbekanntes Territorium zu setzen, wären wir schon
heute an Land gegangen.«
Gemma lächelte ihn an. »Ich werde es bestimmt noch einen weiteren
Tag überleben.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf den Mund und schloss die Augen.
Bryce zog sie im Dunkeln an sich und fragte sich, warum sie das
erste Mal nach so langer Zeit vor seiner Berührung zurückgezuckt war.
Am nächsten Morgen geleitete Bryce Gemma an Deck. Träge schwappte
das Wasser des mächtigen Flusses an die Kaimauern. Gemma sah sich um. Alles
hier schien langsamer, behäbiger abzulaufen, als es in England der Fall gewesen
war. Zwar zeigte ihr das Tempo, mit dem die Dragonfly entladen wurde
dass hier genauso effektiv gearbeitet wurde, aber die Menschen schienen sich
dabei schwerfälliger zu bewegen.
Gemmas entsetzter Blick fiel auf die
Fußfesseln der hünenhaften schwarzen Arbeiter. Ihre Oberkörper waren frei oder
nur mit Lumpen bekleidet und glänzten schweißnass in der Sonne. Ein weißer
Aufseher schwang eine Peitsche, die immer wieder einen der Männer, der ihm
nicht schnell genug erschien, zur Arbeit antrieb. Unbewusst schlossen sich ihre
Finger fester um Bryce' Arm. Erstaunt sah Bryce sie an.
»Sind das alles
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