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Gemma

Gemma

Titel: Gemma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Last
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schleichen.
    Langsam bemerkte Gemma, wie ihre Lider
schwerer wurden. Sie unterdrückte ein Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand,
aber ihre Müdigkeit schien mit jeder Sekunde zuzunehmen. Mit einem letzten
Blick auf den Mond krabbelte Gemma ins Bett und schloss die Augen.
    Ziellos
wanderte Gemma am nächsten Morgen durch die Hallen von Kenmore Manor. Bereits
sehr früh waren ihre Tante, ihr Onkel und Sir Ranleigh mit dessen prachtvollem
Vierspänner nach London aufgebrochen und bislang nicht zurückgekehrt. Nicht,
dass Gemma sie sonderlich vermisst hätte, aber sie fragte sich dennoch, was
ihre Verwandten mit jemandem wie Sir Ranleigh, der im gesellschaftlichen – und
politischen – Rang so weit über ihnen stand, zu schaffen hatten. Und warum
hatte ihre Tante darauf bestanden, dass Gemma sie begleitete, wenn sie ihre
Tage dann doch allein in Kenmore Manor verbringen musste? Ihre anfängliche Freude,
London und den in der Stadt herrschenden Trubel nach all den Jahren endlich
wiederzusehen, war quälender Langeweile gewichen. Sie fühlte sich lustlos und
niedergeschlagen, so gar nicht sie selbst.
    Die Korridore, die sie durchschritt, schienen
endlos, und Gemma musste sich zwingen, um nicht ins Bett zurückzukehren. Schon
seit dem Morgen lastete eine bleierne Müdigkeit auf ihren Schultern, die sich
nicht mit den ungewohnten Strapazen der Reise erklären ließen. Sie war immer
gerne gereist, und auch wenn sich ihr in den zwei Jahren, die sie jetzt bei
ihrer Tante lebte, keine Gelegenheit dazu geboten hatte, so konnte sie sich
dennoch nicht vorstellen, dass die relativ kurze Fahrt bis vor die Tore von
London sie derart erschöpft hatte. Während sie am Tage wie ein Geist
umherwandelte, hatte sie nachts geschlafen wie ein Stein, sobald ihr Kopf das
Kissen berührt hatte.
    Mit schweren Schritten erklomm Gemma eine Treppe. Fast schon
wollte sie die Anstrengung aufgeben und in ihr Zimmer im anderen Flügel des
Hauses zurückkehren, als ihr Blick auf ein Gemälde fiel, das am Kopf des
Treppenabsatzes hing.
    Auf beinahe unerklärliche Weise davon angezogen trat sie näher.
Das Bild zeigte einen Knaben, fast noch ein Kind, der sie von der Wand herab anzusehen schien. Seine grauen Augen
blickten trotzig in dem schmalen Gesicht, das bereits die scharfgeschnittenen
Züge des Erwachsenwerdens erahnen ließ, und
die schöngeformten vollen Lippen waren widerspenstig zusammengekniffen.
Anscheinend hatte der Künstler nicht versucht, den Unmut des Knaben zu
verbergen, sondern seinen Starrsinn so eingefangen, wie er ihm begegnet war.
    Täuschte sie sich, oder konnte sie Schmerz in den Augen des Knaben
erkennen? Gemma trat einen Schritt zurück, um das Gemälde noch besser auf sich wirken zu
lassen. Nein, sie täuschte sich nicht. Der Junge – Wie alt mochte er sein? Elf,
zwölf? – hatte heroisch versucht, seine Verletzlichkeit vor der Welt zu
verbergen, und Gemma mochte schwören, dass es ihm auch gelungen war. Hatte
überhaupt schon jemals jemand dieses Gemälde so betrachtet, wie sie es tat?
Hatte der Künstler überhaupt geahnt, was für ein Meisterwerk er geschaffen
hatte, indem er die Züge des Knaben beinahe lebendig werden ließ?
    Gemma fragte sich, ob dieser Knabe
vielleicht Lord Kenmores jüngerer Sohn – der gefallene Engel, dachte sie mit
einem Lächeln – war. Sie hatte sich am Tage zuvor die Gemälde in der
Bibliothek angesehen und war sich sicher, dass dieses Kind zumindest ein naher
Verwandter des Barons von Kenmore sein musste. Seine Züge hatten zu viel
Ähnlichkeit mit denen des alten Barons wie auch dessen verstorbenen Sohnes
Robert. Nachdenklich betrachtete Gemma das Bild.
    Sollte es sich hier wirklich um den jüngeren Sohn des Barons
handeln? Das Kinn, noch weich gezeichnet von der Jugend, wies schon die
gleiche starrsinnige Qualität auf, die ihr bei dem alten Baron aufgefallen war.
Die schöne gerade Nase, die mit der körperlichen Reife noch etwas schmaler
werden würde, war eine beinahe exakte Kopie der Nase seines Vaters. Die Augen
und die Lippen schien er von der Mutter geerbt zu haben. Sie waren feiner,
sanfter geschnitten, ohne jedoch im Geringsten feminin zu wirken. Alles in
diesem jungen Gesicht sprach von Kraft und Eleganz, von Mut und nicht zu erschütterndem
Starrsinn.
    Gemma lächelte. Es musste schwierig gewesen sein, diesen Knaben zu
bändigen und ihn zu etwas zu bewegen, das er nicht hatte tun wollen. Wenn er
nur halb so dickköpfig gewesen war, wie es auf diesem Bildnis den Anschein
hatte,

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