Gemma
hatte der alte Baron alle Hände voll zu tun gehabt.
Falls es sich um seinen Sohn handelte. Aber
wenn er es war, warum hing das Gemälde dann nicht in seiner Bibliothek, wo der
Baron die Bildnisse seines anderen Sohnes aufbewahrte? Sollte der Bruch so tief
gegangen sein, dass der Baron noch nicht einmal den Anblick seines jüngeren
Sohnes ertragen konnte? Was für ein trauriger Gedanke, fand Gemma. Auch wenn sie
von ihrer Tante keine Liebe und keinen Respekt zu erwarten hatte, so konnte sie
es sich dennoch nicht vorstellen, dass ihr Vater ihr je seine Liebe entzogen
hätte. Er hätte sie geliebt, egal was zwischen ihnen vorgefallen war, dessen
war sie sich sicher.
Und was war geschehen, das diesen Knaben die Welt mit so viel
Verachtung in seinen grauen Augen betrachten ließ?
Gemmas Herz schlug schneller. Sie wünschte sich, sie wäre damals
dort gewesen, um diesen Jungen in den Arm zu nehmen und ihn zu trösten und um
ihm zu versichern, dass es jemand gab, der ihn liebte.
Nur allmählich gelang es ihr, ihren Blick von dem Porträt
loszureißen. Immer wieder sah sie sich um, als sie die Treppe wieder
hinabschritt. Der Blick aus grauen Augen schien ihr zu folgen, bis sie um eine
Ecke bog und verschwand.
Am späten Nachmittag kehrten Tante Ethel und Onkel Cedric
gutgelaunt mit Sir Ranleigh aus der Stadt zurück. Ethel ließ es sich nicht nehmen, Gemma mit einem Geschenk zu
überraschen, eine Geste, die Gemma mit Erstaunen erfüllte. Noch niemals hatte
Ethel ihr etwas geschenkt, noch nicht einmal zu ihrem Geburtstag oder zum
Christfest. Warum also diese plötzlich zur Schau getragene Großzügigkeit?
Zögernd öffnete Gemma das seidene Papier. Darin befand sich eine
zarte goldene Kette mit einem Anhänger in Form eines Herzens. Mit einem kleinen freudigen Aufschrei betrachtete
Gemma den funkelnden Saphir, in dessen Facetten sich das Kerzenlicht brach und
ihn zum Erstrahlen brachte. Niemals hätte sie es ihrer Tante, die Schmuck nur
dann als kostbar erachtete, wenn er groß und schwer war, zugetraut, ein derart
filigranes Kleinod auszuwählen.
»Darf ich es Euch umlegen?«, fragte Godfroy, der bereits hinter
sie getreten war und seine Hand ausstreckte, um die Kette aus Gemmas Fingern zu nehmen. Wie unbeabsichtigt berührte
dabei sein Handrücken ihre Brust, als er die Hand mit der Kette zurückzog. Nur
mit Mühe konnte Gemma ein Beben unterdrücken.
Sein warmer Atem strich über den zarten Flaum
ihres Haaransatzes, und seine langen schlanken Finger berührten die Haut ihres
Nackens. Ein unbehaglicher Schauer rann Gemma über den Rücken, als Godfroys
Hände ihre Schultern umspannten, nachdem er den winzigen Haken geschlossen
hatte.
»Ich hielt es für unpassend, Euch selbst ein derartiges Geschenk
zu offerieren, und bat stattdessen Eure Tante, es Euch zu überreichen. Es freut
mich, dass es Euch so gut gefällt – und steht.« Bedeutungsvoll glitt sein Blick
zu dem herzförmigen Saphir, der wie ein blaufunkelnder Stern zwischen ihren
weißen Brüsten ruhte.
Gemma spannte die Schultern ungeachtet der Tatsache, dass diese
Bewegung sie näher an Sir Ranleigh drängte. »Ihr wähltet dieses Schmuckstück
für mich aus?«
»Ja, was dachtest du denn, du undankbares Ding?«, fuhr ihre Tante
sie an. »Ich habe Sir Ranleigh ja gleich gesagt, dass du etwas so Kleines nicht
zu schätzen weißt. Du willst ja immer nur die größten und schönsten Geschmeide
für dich.«
Wann hatte ihr je der Sinn nach großen und schönen Geschmeiden
gestanden?, fragte sich Gemma. Und wann hatte sie je im Hause ihrer Tante danach verlangt? Das erste Jahr
hindurch hatte sie noch nicht einmal anständige Kleider getragen und jetzt, wo
es ihr gestattet war, ihre besseren Kleider anzulegen, waren sie ihr zu klein,
sodass ihr Busen beinahe unsittlich aus dem Dekolleté quoll.
»Ich danke Euch, Sir Ranleigh, für diese äußerst großzügige
Geste«, sagte sie mit leiser, kaum zu vernehmender Stimme. Der Gedanke, dass es nicht ihre Tante, sondern Ranleigh
gewesen war, der ihr dieses Geschenk bereitet hatte, dämpfte ihre Freude. Was
für einen Grund hatte er, ihr ein solch kostbares Schmuckstück zum Geschenk zu machen? Falls es
wirklich seine Absicht gewesen wäre, es sie nicht wissen zu lassen, warum
hatte er es ihr dann gesagt?
Unbewusst suchte ihr Blick ihren Onkel, der sich wie immer im
Hintergrund hielt. Sie erbebte, als sie den Ausdruck des Mitgefühls und des tiefen Bedauerns in seinen Zügen las, aber
noch bevor sie ihn fragen
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