Gemma
ließ Bryce sich zurücksinken. Hörte das denn nie auf?
Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen, bis sich sein Kopf so weit
geklärt hatte, dass er einen vernünftigen Gedanken fassen konnte.
Mit einem schnellen Blick streifte Richard Campbell die
versammelte Menge. Bis auf seinen Neffen, Godfroy, und die zitternde Dienstmagd
kannte er niemanden, stellte er fest. Schließlich aber fiel seine
Aufmerksamkeit auf die schlanke Gestalt, die sich zitternd, nur mit einem
Nachthemd bekleidet, an die Wand drängte. Ihr langes Haar hatte sich aus dem
Zopf gelöst, zu dem sie es für die Nacht geflochten hatte, und sie benutzte es,
um ihren Körper vor neugierigen Blicken zu verbergen. Hatte Bryce endlich eine
Braut nach Hause geführt? Unmutig zogen sich seine Brauen zusammen, als ihm bewusst wurde, dass es Bryce nicht sonderlich zu
stören schien, dass alle im Raum das Mädchen unverschämt anstarrten. Sollte
sein Sohn es etwa gewagt haben, eine Hure aus London mit nach Kenmore zu
bringen?
Die wüsten Beschimpfungen und wilden
Diskussionen waren wieder aufgeflammt. Ethels keifendes Organ übertönte alle
anderen, als sie Gerechtigkeit für sich und ihre Familie forderte. Niemand
achtete auf Gemma, die versuchte, sich seitwärts an der Wand entlang aus dem
Zimmer zu stehlen. Wenn es ihr nur gelänge, ihr Zimmer zu erreichen, damit sie
sich etwas überziehen konnte, dann wäre ihr schon viel wohler. Nur noch einige
kleine Schritte, und sie hätte die Tür erreicht.
Leider nutzte Ethel genau diesen Augenblick, um sich an Gemma zu
erinnern.
»Wohin willst du, du nutzloses Miststück? Dachtest du, du könntest
dich klammheimlich davonstehlen, nach allem, was du angestellt hast?« Finger
wie Stahlklammern schlossen sich um Gemmas Oberarm und rissen sie ins Zimmer
zurück. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Beschämt versuchte Gemma, die Arme
vor der Brust zu kreuzen, aber Ethels unnachgiebiger Griff ließ das nicht zu.
»Aber ich habe doch gar nichts getan ...«, versuchte Gemma zu
erklären, aber Ethels laute Stimme übertönte ihre verzweifelten Worte.
»Was fällt dir nur ein?«, schnauzte Ethel sie
an. »Seit fast drei Jahren kümmere ich mich um dich wie um mein eigenes Kind,
und was ist der Dank dafür?« Sie schüttelte Gemma anklagend. Wenn du mich
wie eines deiner Kinder behandelt hast, dachte Gemma, dann ist es nur
gut, dass du keine eigenen Kinder hast, die dir auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert sind. Wohlweislich behielt sie diesen rebellischen Gedanken
für sich. Es war sicher nicht klug, Tante Ethel noch weiter zu reizen.
»Anstatt an deinen Onkel und mich zu denken und sittsam auf deine
Tugend zu achten, steigst du mit dem erstbesten dahergelaufenen Hurensohn ins
Bett ...«
»Hütet Eure Zunge, Madam«, herrschte Richard Campbell Ethel an, und
auch Bryce war hochgefahren, um Gemmas Tante mit finsteren Blicken zu
durchbohren.
»Wen nennt Ihr hier einen Hurensohn?«, fragte
er gefährlich leise, ohne die kalten grauen Augen von Ethel abzuwenden.
Ethel Robbins schluckte schwer. Großer Gott!
Wenn das nicht der leibhaftige Teufel war. Unbewusst und mit zitterndem Arm
bekreuzigte sie sich. Sie hatte bisher nur einen flüchtigen Blick auf die
zweite Person im Bett geworfen, gerade ausreichend, um zu erkennen, dass diese
Person eindeutig männlich war. Wie hätte sie denn auch ahnen sollen, dass
ausgerechnet der Leibhaftige ihr nichtsnutziges Mündel verführen würde?
Ihr unsteter Blick fiel auf Gemma, die mit niedergeschlagenen
Augen neben ihr stand.
Ruiniert.
Blanker Hass durchzuckte Ethel, als sie daran
dachte, dass ihr mühsam eingefädelter Plan zunichte gemacht worden war. Unter
diesen Umständen würde Sir Godfroy Gemma kaum noch haben wollen und angesichts
dieses dunklen Fremden, dessen Augen Funken zu versprühen schienen, konnte sie
es ihm auch kaum verdenken.
»Da ich Euch nicht kenne, Madam«, fuhr
Richard Campbell, Lord Kenmore, mit einem Seitenblick auf seinen Sohn fort,
»kann ich nur annehmen, dass Ihr eine Bekannte meines Neffen seid. Ich rate
Euch daher, Eure Zunge im Zaum zu halten, oder aber ich könnte mich geneigt
sehen, die Einladung, die Ranleigh offensichtlich ausgesprochen hat, zu widerrufen.«
Cedric, ganz entgegen seiner sonstigen
Gewohnheiten, zupfte Godfroy am Ärmel. »Wer ist denn das?«, wollte er leise
flüsternd wissen, aber Richard Campbell hörte ihn dennoch. »Ich, Sir, bin
Richard Campbell, Lord Kenmore. Mir gehört dieses Anwesen.«
Ethel ließ vor
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