Gemma
vertraut. Ich kann
für die Überfahrt zwar nicht bezahlen – ganz zu schweigen von den Gefahren, die
eine allein reisende Frau befallen können. Aber als Junge verkleidet kann ich
für die Mannschaft anheuern, vielleicht als Schiffsjunge. Jedes Schiff braucht
einen Moses, also warum nicht mich? Ich bin ganz sicher nicht schlechter
geeignet als irgendjemand anders.« Ihre flehenden Augen waren auf Brads Gesicht
gerichtet. Er war noch immer nicht von der Weisheit ihres Vorhabens überzeugt,
das konnte sie deutlich sehen, aber so leicht gab Gemma nicht auf.
»Das ist der einzige Weg. Das ist meine einzige Chance, von hier
wegzukommen.«
»Aber warum wollt Ihr denn überhaupt gehen? Ihr seid mit Lord
Kenmores Sohn verheiratet. Ihr könnt sicher hier bleiben, solange er auf See
ist.«
Gemmas Blick verdunkelte sich bei dem
Gedanken.
»Ja, natürlich, und den Rest der Zeit verbringe ich damit, mich
Sir Godfroys grabschenden Händen zu erwehren«, schnaubte sie angeekelt.
Brad riss die Augen auf, während sich sein Gesicht rot vor Wut
verfärbte. »Er erlaubte sich Freiheiten mit Euch? Ihr müsst es Eurem Gemahl
mitteilen ...«
»Er weiß es«, unterbrach Gemma ihn mit müder Stimme. »Er weiß
es?«, wiederholte Brad fassungslos. »Aber sicherlich wird er ...«
»Er hat es gesehen, und er hat gar nichts getan. Er wurde wütend
und verließ das Haus. Im Moment ist er auf dem Weg nach London. Er sagte seinem
Vater, dass er es vorzöge, in London zu bleiben, in einem Hotel in der Nähe der
Docks, statt noch länger mit mir unter einem Dach.«
Die Tränen, die sie bisher so erfolgreich
zurückgehalten hatte, begannen nun zu fallen. Verlegen versuchte Gemma, sie mit
dem Handrücken fortzuwischen, nur um noch stärker zu schluchzen.
»Siehst du denn nicht«, stammelte sie mit
tränenerstickter Stimme, »ich kann nicht bleiben! Sir Godfroy sagte, dass er
jetzt, wo ich verheiratet bin, kein Interesse mehr an mir hat, außer für ...
na, du weißt schon. Mein Ehemann verabscheut mich und verbringt seine Zeit
lieber in einer Taverne in London.«
Mit Huren, die wenigstens ehrlich sind, was
ihre Arbeit betrifft. Bryce' Abschiedsworte
hallten durch ihren Kopf und wieder musste sie den Impuls unterdrücken, unter
seinen schneidenden Worten zusammenzuzucken. Warum nur hatte er sie so
verletzen müssen? Warum hatte er das Schlimmste annehmen müssen, ohne ihr die
Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen? Was hatte sie ihm denn getan? Erneut
drohten Tränen, Gemma die Kehle zuzuschnüren. Entschlossen schüttelte sie die
Erinnerung von sich ab und sah Brad in die Augen.
»Ich kann nicht hier bleiben und ich kann auch
nicht zurück zu meiner Tante. Sie wird mich nicht mehr aufnehmen, jetzt wo sie
keinen finanziellen Ausgleich mehr für mich erhält. Alle meine Mittel werden
von meinem Ehemann verwaltet, das heißt, ich habe keinerlei Geld zu meiner
Verfügung. Ich bezweifele sehr, dass er mir ein monatliches Taschengeld
zugesteht, damit ich ein Leben in der Stadt finanzieren kann. Zumindest hat er
nichts in der Art angedeutet.« Gemma atmete tief durch.
»Nein, das Einzige, was ich tun kann, ist,
meinen eigenen Weg zu gehen, damit ich meine Unabhängigkeit erlange. Wenn die
Leute Recht haben, kann in Amerika jeder, der bereit ist zu arbeiten, reich
werden. Und ich will arbeiten. Ich kann arbeiten, das weißt du. Also muss ich
nur noch dorthin gelangen.« Ihre Wangen glühten und Tränen glänzten noch immer
in ihren Augen, als sie Brad ansah.
»Ich wollte schon immer unabhängig sein und niemals heiraten, aber
jetzt, wo das hier alles passiert ist – da muss ich eben versuchen, einen
anderen Weg für mich zu finden.«
Brad sah sie lange an, bevor er langsam,
voller Verständnis nickte. Er erinnerte sich an die unzähligen Male, an denen
sie ihm von ihren Träumen erzählt hatte, und keiner ihrer Träume hatte auch nur
die geringste Ähnlichkeit mit ihrer derzeitigen Situation gehabt. Nein, sagte
er sich, Gemma würde niemals glücklich werden mit dem Leben, welches das
Schicksal ihr zugedacht hatte, aber sie war mutig genug, ihre Zukunft selbst in
die Hand zu nehmen. Und wenn er irgendeinen Beitrag dazu leisten konnte, würde
er es tun.
»In Ordnung«, stimmte er schließlich zu. »Ich werde Euch helfen.
Ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass es eine gute Idee ist, aber wenn
Ihr es so machen wollt ...«
»Ich muss es tun. Ich sehe keinen anderen
Weg.«
Brad seufzte. »Ich leider auch nicht. Kommt mit mir«,
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