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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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kannte den Kräuterlikör. Er schmeckte wie flüssiger Honig.
    »Meine Großtante Annie hat zum krönenden Abschluss ihrer Kaffeekränzchen immer einen ›Mariawalder Klosterlikör‹ gereicht«, sagte ich und strich mit dem Finger über das Bild des Klosters.
    Mit einem leisen »Plopp« schloss sich die Kühlschranktür hinter mir, während ich mich umdrehte und wieder ins Wohnzimmer ging. Ich schüttete das Wasser in die Erde des Kunststoffficus neben der Couch und füllte das Glas zu einem Drittel mit dem Likör.
    »Du kannst hier schlafen, wenn du möchtest«, sagte Steffen mit einem Blick auf das Etikett. Fünfunddreißig Prozent Alkohol verboten jegliches Fahren. »Ich bleibe auf dem Sofa.«
    »Okay.« Ich nippte kurz und trank dann alles in einem Zug aus. Der Alkohol brannte sich einen Weg durch meine Kehle bis zum Magen. Wärme breitete sich in meinem Inneren aus. Und Müdigkeit. Wie damals, als ich heimlich die Reste aus den Gläsern der Besucherinnen ausgetrunken hatte und unter Tante Annies Küchentisch eingeschlafen war. Heute brauchte es keine Heimlichkeit mehr. Ich goss wieder ein. Diesmal bis zur Hälfte.
    Steffen stand auf und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Ich hörte ihn Schränke öffnen und schließen, während ich mich in seinen Sessel fallen ließ.
    »Willst du lieber auf dem Sessel schlafen?«
    Ich zuckte hoch. Er hockte vor mir und hatte seine Hände auf meine Knie gelegt. Ich musste eingeschlafen sein.
    »Das Bett ist frisch bezogen, Ina.«
    »Danke«, murmelte ich leise und kämpfte mich aus dem Sessel hoch. Und, während ich die Schlafzimmertür hinter mir schloss, noch einmal, diesmal lauter: »Danke.«
    Er hatte mir eines seiner T-Shirts auf das Bett gelegt. Ein frisches Handtuch und eine originalverpackte Zahnbürste warteten auf ihren Einsatz. Ich löschte das Licht und zog mich langsam aus. Die Wunden an meinen Schienbeinen schmerzten, als der Stoff sie berührte, aber ich hatte keine Lust, mich darum zu kümmern.
    Die roten Ziffern des Radioweckers sagten mir, dass es bald ein Uhr sein würde. Es war bereits Mittwoch. Ich ging zum Fenster und sah hinaus.
    Durch die Dunkelheit konnte ich den kleinen Garten des Hauses erkennen. Der Wald drängte sich bis fast an den Zaun heran, der die Wildnis an der Übernahme der Rosenbeete hindern sollte. Die Mieter der unteren Wohnung hatten den Kampf, wie es schien, noch nicht aufgegeben und verteidigten jeden Zentimeter. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Steffens Balkon. Aus einem der leeren Blumenkästen erhob sich eine kleine Birke. Ihre Blätter bewegten sich geräuschlos im Nachtwind. Ich legte die Stirn an die kühle Scheibe und verlor mich in der Dunkelheit vor dem Fenster. Warum ich weinte und wann ich damit begonnen hatte, egal. Ich spürte die Tränen an meinem Gesicht entlanglaufen und fror. Die Kälte kroch aus meinem Inneren auf meine Haut.
    Ich hatte einen Mörder geliebt. Meine Instinkte, meine Intuition, mein gesamtes Können als Polizistin. Weggewischt. Hatte Sauerbier recht und ich konnte mich nicht auf mein Gefühl verlassen? Was war mit Steffen? Mit geschlossenen Augen drehte ich mich um und lehnte mich an die Fensterbank. Die Tür öffnete sich, und leise Schritte näherten sich. Mit den Fingerspitzen strich Steffen über meine geschlossenen Lider, folgte den Spuren der Tränen und berührte meine Lippen.
    »Wenn du mir vertraust …«, murmelte er und beugte sich vor. Ich spürte seinen Atem, fühlte seine Nähe durch den dünnen Stoff des T-Shirts. Mein Körper reagierte, und mein Verstand wollte ihm folgen. Ich erwiderte seinen Kuss. Zögernd erst. Meine Hände klammerten sich an den kalten Marmor der Fensterbank.
    Irgendwann musste ich mir wieder vertrauen können.
    Musste loslassen.
    Irgendwann.
    Jetzt.
    Seine Haut fühlte sich warm an.

ACHT
    Der Schmerz bohrte sich tief in meinen Schlaf. Jemand zog mit stumpfen Messern die Haut von meinen Schienbeinen ab. Ich stöhnte und versuchte dem zu entkommen, aber es half nicht, im Gegenteil. Ich schlug die Augen auf. Das dämmerige Licht weckte gerade die ersten Vögel draußen vor dem Fenster. Mir war heiß und schwindelig. Die Trockenheit in meinen Mund quälte mich fast noch mehr als das Pochen und Jucken in meinen Beinen. Vorsichtig hob ich die Bettdecke und legte meine Hand auf die freien Stellen zwischen den Pflastern. An meinem rechten Fußgelenk hatte sich eine dicke Schwellung gebildet, und die Haut unter meinen Fingern war heiß und gespannt bis zum Äußersten. Das

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