Gemuender Blut
bis starke Arme sie aus der Meute zogen und eine laute Stimme Einhalt gebot. Im Lehrerzimmer roch es nach Kaffee und Zimtsternen.
»Wer hat das getan?« Die Blicke der jungen Referendarin folgten den Bewegungen ihrer Finger, die sanft über die Stoppeln auf dem Kopf des Kindes glitten. »Dein Vater?«
Die Referendarin wusste nichts von der Frau.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Papa ist nicht böse. Mein Papa ist lieb. Immer ist der lieb.«
Die Referendarin nickte. »Ist es wegen der Läuse in unserer Klasse?« Die Stimme der Lehrerin hörte sich an, wie ein warmes Schaumbad sich anfühlte. Sie wollte darin versinken, Geborgenheit und Liebe finden. Sie schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, von der Lehrerin umarmt zu werden. Ganz fest. So wie Mama es früher getan hatte oder wie sie meinte, sich daran zu erinnern, wie es war, wenn Mama sie umarmt hatte.
Langsam hob sie die Lider. Die Tränen, die in ihren Wimpern hingen, ließen das Gesicht der Lehrerin verschwimmen. Sie sah die Augen nicht. Sie wusste nicht, ob sie ihr vertrauen konnte.
»Es war die Frau, die immer zu Papa kommt.«
»Sie hat dir die Haare abgeschnitten?«
Das Mädchen nickte. »Ja.« Sie drückte ihre Fingernägel in die Handballen, bis es wehtat. »Die Frau ist böse.«
Die Referendarin lächelte sie an.
»Deine Haare werden wieder wachsen«, sagte sie, zog den Plätzchenteller zu sich heran und reichte ihr einen Zimtstern. »Bestimmt werden sie dann noch schöner sein als vorher.«
Sie stand auf, zog ihren Ranzen an und sah zu der jungen Frau hoch. Wie schön es wäre, wenn die Lehrerin zu Papa und ihr nach Hause kommen würde. Die Lehrerin war gut. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, wie Wellen, die langsam an einen Strand schlagen, den Sand glätten und Spuren verwischen.
Sie lächelte. Sie war glücklich.
***
Olaf beachtete mich nicht, als Steffen mich auf die Intensivstation brachte und den Rollstuhl auf die andere Seite des Bettes schob. Wortlos stand er auf, klaubte mit gesenktem Blick sein Buch und die Zeitung zusammen und ging.
»Wir sehen uns heute Nachmittag, Ina. Es wird besser sein, wenn ich mit Olaf rede«, murmelte Steffen. Er gab mir einen flüchtigen Kuss. Selbstverständlich, als ob wir seit Jahren ein Paar wären, und folgte Olaf hinaus auf den Gang.
»Na, dann bleiben noch wir beiden Hübschen.« Michelle. Ich hatte sie fast vergessen.
»Soll ich uns einen Kaffee holen gehen?« Sie sprang auf, eilte hinaus, kam einige Minuten später mit zwei dampfenden Plastikbechern zurück und stellte einen vor mir ab.
»Hat Olaf etwas gesagt?« Ich dankte ihr mit einem Nicken.
Sie umfasste den Rand des Bechers mit spitzen Fingern. Der Lack an ihren Nägeln war an einigen Stellen abgesprungen.
»Nein.«
Ich lehnte mich zurück und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Die Schmerzmittel machten mich träge.
»Du bist also Kommissarin und ermittelst in einem Mordfall?« Michelle rückte ihren Stuhl näher an mich heran und beugte sich vor. »Was hast du denn schon alles ermittelt?« Ihr Ton ließ auf den Versuch belangloser Kommunikation schließen.
»Ich ermittle nicht in einem Fall.«
»Aber Olaf hat …«
»Ich bin beurlaubt.« Selbst in meinen eigenen Ohren klang es schärfer als beabsichtigt. Ich setzte mich gerade hin und lächelte sie an. Dann fragte ich, um ehrliches Interesse bemüht: »Und du machst in Gemünd Urlaub – wovon?«
Für einen Moment glaubte ich, ein Zucken in ihren Augen zu sehen. Aber der Eindruck verblasste, als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich und den Zopf noch strammer zog, als er ohnehin schon war.
»Von meinem Leben?« Sie sank zu einem Häuflein Elend zusammen. »Ich habe keine so schöne Zeit hinter mir und versuche mich neu zu ordnen. Mein Leben neu zu ordnen. Meinen Träumen ein Stück näherzukommen.«
»Träume von was?«
»Einem Mann, der bei mir bleibt, dem ich blind vertrauen kann, Kinder, ein Haus, keine Hektik mehr? Manchmal sehe ich mich selbst, wie ich mit einem Hund und einem Kinderwagen losziehe. Ich sehe mein Leben so, wie ich es mir wünsche, wie ich es haben will. Und wie es mir niemand nehmen kann.«
»Wir sind uns sehr ähnlich.«
»Ja.«
»Ich kenne meine Träume noch nicht. Nur meine Alpträume.«
»Ich weiß.«
»Kennst du deine Albträume?«
Sie schwieg.
»Ich bin hierhergekommen, um sie zu vergessen«, murmelte ich.
»Manche Albträume verfolgen einen bis in die Wirklichkeit
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